Der Traum von der Unabhängigkeit
Pellworm produziert siebenmal so viel Strom aus erneuerbaren Energien, wie es selbst verbraucht. Trotzdem schafft es die Insel nicht, autark zu werden. Was kann Deutschland daraus lernen?
Pellworm produziert siebenmal so viel Strom aus erneuerbaren Energien, wie es selbst verbraucht. Trotzdem schafft es die Insel nicht, autark zu werden. Was kann Deutschland daraus lernen?
Foto: Maria Rohweder
Der Zweifel an der deutschen Energiewende entspringt in einem lindgrünen Häuschen unmittelbar hinter dem Deich. „Pellworm Windpark STST424696“ steht an der Metalltür, darüber „Hochspannung Lebensgefahr“. Hier fließt der Strom dreier Windkraftanlagen zusammen, die auf dem Acker hinter der sogenannten Übergabestation in die Höhe ragen. Und hier, unter den Bodenplatten, beginnt die Nabelschnur der Insel: ein Seekabel, das Pellworm mit dem Festland verbindet. Die Absicherung für Zeiten, in denen der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Können die Pellwormer:innen diese Schnur durchtrennen?
Bis 2050 soll die gesamte Stromversorgung in Deutschland aus regenerativen Energiequellen stammen. Auf Pellworm zeigt sich, wie mit idealen Bedingungen und mutigen Ideen diese Umstellung gelingen kann – und wo sie trotz starken Engagements der Gemeinde und der Bürger:innen an ihre Grenzen stößt.
Dass der Strom nicht einfach aus der Steckdose kommt, lernten die Pellwormer:innen besonders früh. Schon Ende der 1970er war die Insel das erste Versuchsfeld für Kleinwindanlagen, 1983 wurde hier die erste Photovoltaik-Großanlage Deutschlands in Betrieb genommen. Mit ausreichend Platz, starkem Wind und vielen Sonnenstunden galt die Insel als der ideale Standort. Ab 1997 folgte ein Bürgerwindpark, seit 2005 liefert die Biogasanlage zusätzlich rund die Hälfte des täglich benötigten Stroms.
Auf das Jahr gerechnet produziert Pellworm die siebenfache Menge dessen, was die Bewohner:innen an Strom verbrauchen. Trotzdem ist die Insel noch immer nicht unabhängig vom Festland. Übers Jahr gerechnet kommen fünf Prozent des Stroms von dort. Was fehlt, sind die Speicher für die überschüssige Energie. Und das Geld, diese zu finanzieren. Dabei sind die Bemühungen darum auf Pellworm so alt wie das Solarfeld selbst. Die ersten Bleiakkus gingen nach nur vier Jahren kaputt. Es hätte eine Million Mark gekostet, sie zu ersetzen, die Insel hatte das Geld nicht.
2012 gab es einen neuen Versuch, Energie auf der Insel zu speichern. Als Forschungsprojekt „Smart Region Pellworm“ kamen weiße Container zwischen die Solarpaneele. Sie enthielten: eine Lithium-Ionen-Batterie und eine Flüssigbatterie, die eine als Kurzzeit-, die andere als Langzeitspeicher für die gesamte Insel gedacht. Die Anlage funktionierte. Und sie halbierte die letzten fünf Prozent Abhängigkeit vom Festland. Doch nach fünf Jahren wurden die Batterien wieder abgebaut, das Forschungsprojekt war beendet. Eine Verlängerung wollte niemand bezahlen.
Blick von der Bürgerwindmühle nach Nordosten.
Die übrigen Kilowattstunden Festlandstrom könnte man aber auch einfach einsparen. Eine Umsetzungsstudie für den Windpark in den 1990ern errechnete ein Energieeinsparpotenzial von 50 Prozent auf der Insel. Die Zahlen gelten größtenteils noch heute. So wäre eine autarke Versorgung zumindest theoretisch möglich. Besonders viel verbrauchen die Heizungen der alten Höfe. Häufig stehen die Häuser exponiert auf sogenannten Warften, aufgeschütteten Hügeln, die sie vor dem Meer schützen. Wenn ein scharfer Nordwestwind weht, kann es dort richtig kalt werden.
Pellworm könnte aber sogar noch mehr Strom erzeugen. 2014 und 2016 wurde der Windpark erneuert, sechs Windkraftanlagen des Typs E-70 E4 stehen seitdem auf den Äckern im Norden der Insel. Trotz des nur leichten Luftzugs an diesem Morgen im Juli drehen sich ihre Rotoren. Der Wind drückt sie in Bewegung und bringt damit den Ringgenerator zum Laufen. In dicken, schwarzen Kupferkabeln strömen die Elektronen durch den Turm zu Boden, im Keller der Anlage durch Trafo und Wechselrichter. Mit 20.000 Volt fließt der Strom zur Übergabestation. Hier entscheidet sich, ob er auf der Insel bleibt oder durch das Seekabel ans Festland geht. Denn meistens hat Pellworm Strom im Überfluss. Die Nabelschnur funktionert also in beide Richtungen. Die Abhängigkeit aber besteht nur in einer.
Doch ausgerechnet wenn der Wind besonders stark bläst und die Sonne aus heiterem Himmel scheint, stehen die Windräder oft still. Dann reicht die Kapazität der Leitungen nicht aus, um den vielen Strom vom Norden in den Süden Deutschlands zu transportieren. Die Windkraft- und Solaranlagen stellen sich in diesen Fällen automatisch ab. Die Energie zieht ungenutzt vorbei. „Das Versagen liegt beim Netzausbau, den man über viele, viele Jahre hat schleifen lassen, obwohl jeder schon wusste, dass das kommen muss“, sagt Uwe Kurzke. „Und dann natürlich auch an dem föderalen Kleinklein, wo die Bayern sagen: ‚Nee, Stromleitungen wollen wir schon mal gar nicht.‘“
Uwe Kurzke sitzt auf der Warft seines Hauses im Garten, Richtung Osten kann er von hier auf den Windpark schauen. Seit Jahren engagiert sich der ehemalige Inselarzt für eine nachhaltige Energieversorgung. Mitte der 1990er investierte er mit 41 anderen Pellwormer:innen in die ersten Windkraftanlagen, gemeinsam gründeten sie die PEEG, die Pellwormer Energie-Erzeugungsgesellschaft. Seitdem verdient Kurzke Geld, wenn die Windräder sich drehen. Und sogar, wenn sie sich nicht drehen: Auch den Ausfall durch die Abschaltung bekommen die Betreiber vergütet. Und das, obwohl gar kein Strom produziert wird.
Der ehemalige Inselarzt Uwe Kurzke auf der Warft seines Hauses.
„Ich finde das wirklich unmoralisch“, sagt Kurzke. „Solange das so läuft, zahlen Verbraucher den Strom doppelt, für etwas, das gar nicht hergestellt wird.“ Im letzten Jahr entgingen den Pellwormer:innen so neun Gigawattstunden Strom. Fast ein Viertel der 40 Gigawattstunden, die auf der Insel theoretisch erzeugt werden könnten. „Dabei könnten wir diesen Strom hier nutzen. Aber das dürfen wir nicht, weil uns die Leitungen nicht gehören, weil das EEG das so vorsieht und die Gesetze so sind. Manchmal fühlt sich das hier an wie bei den Schildbürgern.“
Was Kurzke meint: Die Insel könnte den Strom zum Beispiel in Wärme umwandeln. Dazu würden große Warmwasserspeicher mithilfe von Tauchsiedern erhitzt und dieses Wasser in Rohren durch die Häuser geleitet. Vor ein paar Jahren wurde die Schulheizung auf ein Holzhackschnitzelwerk umgestellt, das zwar als relativ umweltfreundlich gilt, dessen Pellets jedoch mit der Fähre gebracht werden müssen. Eine Stromheizung wäre für die Inselschule die einfachere Alternative. Doch das rechnet sich nicht. Denn für jede Kilowattstunde, die in Deutschland ins Stromnetz eingespeist wird, werden Steuern und Abgaben fällig. 2021 muss der Verbraucher durchschnittlich 31,9 Cent für sie zahlen. Nur 7,7 Cent davon kostet es, den Strom herzustellen.
Auf den dreieinhalb Kilometern zwischen Windkraftanlage und Inselschule vervierfacht sich also der Strompreis. Auf Pellworm ist der Strom sogar besonders teuer, und ein Grund sind ausgerechnet die Windkraft- und Photovoltaikanlagen. Wenn immer mehr Menschen ihren Strom direkt von eigenen Solarzellen auf dem Hausdach beziehen, kaufen sie weniger Strom aus dem Netz dazu. Die Kosten, die fürs Betreiben der Netze anfallen, werden dann auf immer weniger Leute verteilt, die Kilowattstunde teurer.
Ein Ausweg wäre, dass die Gemeinde das Netz selbst betreibt. Dann könnten zumindest öffentliche Einrichtungen den Strom zum Börsenpreis verwenden. „Von der Gemeinde gibt es aber große Bedenken. Die sagen, wir bräuchten die Eon, um im Notfall die Stromversorgung vom Festland zu haben. Diese Angst ist hier ganz tief verwurzelt: Irgendwann kappen sie uns die Wasserleitung, irgendwann kappen sie uns die Stromkabel und dann sitzen wir hier“, sagt Kurzke.
Natürlich gebe es auch nach wie vor Leute auf der Insel, denen die Energiewende schlichtweg egal sei, sagt einer der Geschäftsführer der PEEG, Kai Edlefsen. Viele Ältere mit einer Ölheizung im Keller wollten nicht noch mal investieren. „Es gibt Menschen, die nicht auf den Zug der Energiewende aufspringen wollen und erst etwas verändern, wenn die alte Variante zu teuer wird.“ Kai Edlefsen ist Biobauer, den Job bei der PEEG macht er nebenbei. Sein Hof liegt im Bupheverkoog, rund 400 Meter vom nächsten Windrad entfernt. Eigentlich laufen die Anlagen von ganz alleine und werden vom Festland aus gesteuert. Die Schlüssel zu jeder von ihnen hat er trotzdem. Falls doch mal etwas ist. Oder er in die Höhe steigen will.
Edlefsen steht im Eingangsraum der Pellwormer Inselmühle, ein Dröhnen mit laut piepsendem Überton erfüllt die Luft. „Wir haben gerade keine hohen Windgeschwindigkeiten, vier bis fünf Meter pro Sekunde, ein ganz laues Lüftchen“, sagt er. Da sei das Abschalten für einen Aufstieg kein Problem. 155 kW Leistung zeigt die Anzeige an, 10,8 Mal drehen sich die Rotorblätter pro Minute. Edlefsen dreht zwei Schalter um, der Lärm lässt nach. Die Rotorblätter werden langsamer und bleiben schließlich beinahe stehen.
PEEG-Geschäftsführer Kai Edlefsen auf der Gondel des Windrads.
Mit Helm und Klettergurt steigt er zunächst eine Sprossenleiter hoch, den Großteil des Weges durch den Stahlrohrturm fährt ein enger, scheppernder Fahrstuhl empor. Durch die offenen Seiten sieht man die Stahlbauteile an sich vorbeiziehen. Noch ein paar Stufen, dann steht Edlefsen in der Gondel, dem Kopf der Anlage, deren Form an einen riesigen Football erinnert. Quietschend schiebt er die Dachluke zur Seite, frischer Pellwormer Wind strömt herein. Kai Edlefsen sichert sich mit einem Karabinerhaken und setzt sich auf die Kante. In diesem Moment ist er auf dem höchsten Punkt Pellworms, rund 65 Meter über dem Marschland. Nur das Rotorblatt schafft es höher. Ragt es senkrecht in den Himmel, kommt seine Spitze auf 99,5 Meter.
Von hier oben sieht Edlefsen seinen Hof, sein Haferfeld, seine Kühe auf der Weide grasen. Hinter dem Deich liegt die fast spiegelglatte Nordsee, im Norden die Halligen, im Osten das Festland mit den Reußenkögen, wo sich ein Windrad an das nächste reiht. Pellworm liegt ihm saftig grün zu Füßen. Fast alle umliegenden Höfe haben Solarzellen auf dem Dach, im Südwesten erkennt man die grauen Kuppeln der Biogasanlage. „Von hier oben bekommt man manchmal einen anderen Blick auf die Dinge“, sagt er. „Dieser autarke Gedanke, den könnten wir hier ja leben: Wir würden die Seekabel abkappen, das Netz auf der Insel kaufen und dann versorgen wir alles direkt selber.“ Natürlich ginge das mit dem Kappen nicht einfach so, schon alleine, weil man die Spannung nicht halten könne.
Die grauen Kuppeln der Biogasanlage – auch oben vom Windrad aus sind sie zu sehen.
Aber die dezentrale Energieversorgung müsse gelebt und durch Gesetzgebung ermöglicht werden, wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will, findet Edlefsen. „Wir sollten uns überlegen: Was ist der unmittelbare Nutzen vor Ort? Wenn eine kleine Insel wie Pellworm eigentlich genug Energie hat, um sich fortzubewegen, zu heizen, jede Waschmaschine anzustellen und jede Glühlampe zum Leuchten zu bringen, dann sollten wir das auch umsetzen können.“
Doch bis dahin würden noch zehn, zwanzig Jahre vergehen. „Eigentlich haben wir die Zeit nicht. Aber schneller geht es wohl nicht“, sagt Edlefsen. Unten am Deich steht puppengroß die lindgrüne Übergabestation, die den Strom der drei hinteren Windräder sammelt. Vom Seekabel ist von hier oben nichts zu sehen.