Wir sind nicht die Heiligen

Die Kinder der Familie Backsen haben die Bundesregierung verklagt, mit Erfolg. Sie sehen ihre Zukunft in Gefahr. Denn die Klimakrise verändert bereits die Gegenwart.

Ein rosenumranktes Backsteinhaus auf einer Nordseeinsel, davor drei junge, blonde Menschen: Sophie, Paul und Jakob Backsen. Im Westen Deutschlands haben vor einer Woche Sturzfluten Dörfer verschlungen und Menschen in den Tod gerissen, hier grasen ein paar Schäfchen neben der Einfahrt, Vögel zwitschern. Ein ungetrübtes Idyll, könnte man meinen. 

Paul: Wenn die krassen Theorien wahr werden, kann man hier nicht mehr leben.

Jakob: Die Starkwetterereignisse, die sind das Gefährlichste.

Sophie: Und der steigende Meeresspiegel. Man kann nicht unendlich hohe Deiche bauen.

Paul: Jap. Irgendwann läuft der Teller voll. 

Hier auf Pellworm, auf dem Hof „Edenswarf“, sind die vier Geschwister groß geworden. Hannes, der Drittälteste, muss an diesem Vormittag im Juli arbeiten. Die Edenswarf führen die Backsens seit mehreren Jahrhunderten. Seit 13 oder 14 Generationen, sagt Jakob Backsen. Ne, sagt Sophie, nicht so lang. Doch, sagt Jakob, das habe er mit Papa ausgerechnet. Man einigt sich auf das Jahr 1703. Seitdem gibt es die Edenswarf, mindestens. Heute ist sie ein Biohof. Und eines der vier Backsen-Kinder wird den Hof weiterführen. Deshalb auch die Verfassungsklage.

Drei der vier Backsen-Kinder: Paul, Jakob und Sophie (von links).

600 Kilometer weiter südlich, auf dem Festland in Baden, hat sich das höchste deutsche Gericht über Monate mit der Zukunft dieses Landes befasst, auch wegen der Backsens. Im April 2021 verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: Die Bundesregierung verstößt mit ihrer aktuellen Klimapolitik teilweise gegen Grundrechte, sie trübt die Zukunftsperspektiven junger Bürgerinnen und Bürger wie Sophie, Paul, Hannes und Jakob. 

Ihre Perspektive ist Pellworm, eine kleine Insel, auf allen Seiten geschützt durch einen acht Meter hohen Deich. Bislang hält er dem Druck der Nordsee stand. Vom Inselinneren sieht man das Meer nicht. Aber das Meer, fürchten viele, bedroht das Leben auf der Insel. Denn sie liegt im Schnitt einen Meter unter Normalnull, einen Meter tiefer als der Meeresspiegel. ​​Wenn der Deich bricht, läuft die Insel in wenigen Minuten voll. Wie ein tiefer Teller.

Für das Ende des Jahrhunderts erwartet der Weltklimarat einen Anstieg des Meeresspiegels zwischen 0,43 und 0,84 Metern, bei hohen Emissionen könnte das Wasser im Jahr 2100 auch 1,10 Meter höher stehe . Im globalen Durchschnitt. In der Nordsee könnte der Pegel höher steigen, weil sich die Nordsee als flaches Meer noch schneller erwärmt. Und warmes Wasser dehnt sich aus. Wenn die Wassermasse zunimmt, wächst auch die Kraft der Strömungen. Und die Wucht, mit der Sturmfluten gegen den Deich krachen. 

Noch bedrohlicher als das Wasser aus dem Meer ist für Pellworm womöglich das Wasser aus dem Himmel. Die Entwässerung der Insel funktioniert über ein kompliziertes System aus Gräben, Sielzügen, Becken, Pumpen und Schleusen. Wenn es sehr viel regnet, kommen die Pumpen nicht mehr mit. Wenn dann auch noch der Wasserstand außerhalb zu hoch ist, kann das Regenwasser nicht mehr ins Meer ablaufen. So war es im September 2017. Nach langem Regen stand ein großer Teil der Insel unter Wasser.

Die zweite Klage hat Erfolg

Auch deshalb sagten die Backsens zu, als Greenpeace sie 2018 kontaktierte. Die Umweltschutzorganisation suchte Biobauernfamilien, die von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen sein könnten und sind und die bereit waren, sich einer Klimaschutz-Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht anzuschließen. Um der Krise ein Gesicht zu geben. Ende Oktober 2019 wiesen die Berliner Richterinnen und Richter die Klage ab. Die bisherigen Klimaschutz-Beschlüsse der Bundesregierung seien Absichtserklärungen, aber keine rechtsverbindlichen und damit einklagbaren Regelungen. Der erste Anlauf der Backsens vor Gericht war gescheitert.

Doch schon im Dezember 2019 schuf die Bundesregierung mit dem Bundes-Klimaschutzgesetz eine neue Grundlage für eine Beschwerde. Dieses Gesetz legt detailliert fest, wie viel Treibhausgas pro Jahr ausgestoßen werden darf – im Verkehr, in der Landwirtschaft, beim Hausbau, aber nur bis zum Jahr 2030. Wie die weiteren Reduktionen für die Zeit zwischen 2031 und 2050 aussehen sollten, blieb offen.

Sofort bereiteten Umweltschutzorganisationen eine neue Klage vor. Diesmal standen junge Menschen im Vordergrund, junge Menschen, deren Zukunft auf dem Spiel steht. Im Februar 2020 reichten sie die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ein. 14 Monate später erging das Urteil – ein „historisches“, ein „spektakuläres“, „bahnbrechendes“, wie Medien schrieben. Es müsse nachfolgenden Generationen möglich sein, befand das Gericht, die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren – und das „nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit“. Sophie, Paul, Hannes und Jakob hatten gewonnen. „Völlig unwirklich“, sagt Sophie Backsen.

Dabei ist die Klimakrise auf Pellworm schon sehr real.

Paul: In einem Jahr ist es knochentrocken und man kriegt nichts in den Boden rein. Und im andern Jahr säuft man schon bei der Aussaat ab. Dieses Jahr war bisher relativ normal. Aber normal gibt es schon gar nicht mehr.

Sophie: Die Extreme werden mehr. Das ist das größte Problem.

Paul: Frühjahr und Sommer sind kaum noch auseinanderzuhalten.

Ein Bauernhof braucht Jahreszeiten, er  hängt ab vom Wechselspiel von Kühl und Warm, von Trocken und Feucht. 

In einem idealen Jahr friert es im Winter, sagen die Backsens, denn dann gibt es weniger Schädlinge, weniger Unkraut. 

Im Frühling soll es so viel regnen, dass die Pflanzen wachsen, aber nicht zu viel. 

Im Sommer, wenn die Ernte ansteht, soll es trocken sein, bis Heu und Stroh eingefahren  sind.

Im Herbst ist es gut, wenn die Rinder lange auf der Weide bleiben, ohne im Matsch zu versinken.

So ideal, so streng nach Lehrbuch, verliefen die Jahre auch früher schon selten, sagen die Backsens. Aber: Die Extreme würden mehr. Und das Planen immer schwieriger.

So richtig ideal ist allerdings auch nicht, dass die Backsens vor allem mit dem Fleisch von Rindern ihr Geld verdienen. Die Familie besitzt rund 200 Rinder und noch einmal halb so viele Schafe. Für die Tiere bauen sie Getreide und Gras an, außerdem Hafer, den sie direkt verkaufen.

Kann man Rinder züchten und das Klima schützen?

Nicht allen leuchtet die Kombination aus Rinderzucht und Klimaschutz ein. Im Gemeindeblatt De Pellwormer erschien ein Leserbrief zur Verfassungsbeschwerde. Darin heißt es: „Auf Pellworm emittiert der Viehbestand der Kläger ein CO2-Äquivalent von etwa 800 t p.a. Die Emission entspricht der Heizung von etwa 250 Wohnungen im Altbau von jeweils etwa 100 Quadratmetern Wohnfläche.“

Den Brief haben die Backsens gelesen. Gefreut haben sie sich nicht. „Es hilft halt auch nichts, einfach zu sagen: ,alles scheiße‘“, meint Sophie Backsen. „Aber ja: Wir müssen bewusster Fleisch konsumieren, regionaler und weniger. Das steht außer Frage. Man kann die Landwirtschaft nicht außen vor lassen, wir sind nicht die Heiligen. Aber es ist auch nicht der einzige Bereich, in dem sich etwas ändern muss.“ 

Die Brüder gehen in die Defensive. Grünland sei auch eine Kohlenstoffsenke, sagt Jakob. Durch Humusaufbau, also durch den Aufbau einer reichhaltigen Bodenschicht aus organischem Material, werde Kohlenstoff gespeichert. Und das werde in der Landwirtschaft aktiv betrieben, sagt Paul. Weidewirtschaft sei wichtig für manche Ökosysteme. Man müsse, finden sie, doch die Zusammenhänge betrachten, den Kontext.

Damit haben sie natürlich recht. Aber es ist auch berechtigt, und notwendig, darüber nachzudenken, wie der Ausstoß von Treibhausgasen verringert werden kann. Und wie die Landwirtschaft den Problemen begegnen soll, die vermutlich immer größer werden.

Sophie, Jakob und Paul kämpfen für mehr Klimaschutz. Und um ihre Zukunft.

„Jeder, der in Deutschland einen Hof übernimmt, muss sich damit beschäftigen“, sagt Sophie Backsen. „Aber wir brauchen immer Lebensmittel. Und da ist es doch besser, die Lebensmittel kommen aus Deutschland, als dass wir von anderen Ländern abhängig sind.“ Sie spricht über Gemischtbetriebe, die nicht nur von einem Produkt abhängen und den Veränderungen der Klimakrise eher trotzen können. Über kleinbäuerliche Strukturen, über Ökolandbau und Hülsenfrüchte, die Stickstoff binden. Man hört aus ihren Worten die Studentin der Agrarwissenschaften und die Erbin eines Bauernhofs, die nicht bereit ist, dieses Erbe verloren zu geben. Man hört, eher leise, auch den Frust.

Sophie: Der Klimawandel ist ein schleichender Prozess. Deshalb kann man ihn so leicht ignorieren.

Paul: Seit 30 Jahren ist gar nichts passiert. 

Jakob: Und dann kommt so ein Laschet um die Ecke.

Sophie: Es ist schade, wie viele Transformationen über Jahre verpasst wurden. Und dann heißt es: „Wir können nicht so auf die Schnelle!“ Doch! Müssen wir! Jetzt! Wir haben keine andere Chance mehr. 

Die Backsen-Geschwister stehen auf, sie gehen zur Weide vor dem Haus. Ein paar Rinder heben träge den Kopf. Das Gras neben der Weide ist saftig-grün, Sophie, Paul und Jakob streifen durch die Halme, die ihnen fast bis zur Hüfte reichen.

Hier sind sie zu Hause. Und einer – oder eine – von ihnen wird den Hof übernehmen, wird die Edenswarf weiterführen. Solange es geht.

von

Viola Kiel