Ich nehme den Pieper mit unter die Dusche

Pellworm hat 1.200 Einwohner:innen, aber nur einen Arzt, eine Pastorin, einen Bäcker und einen Bestatter. Sie sind unentbehrlich. Wie lebt es sich mit dieser Verantwortung?

Man besucht sie nicht oft, aber jeder auf der Insel tut es irgendwann: Wenn man krank ist oder Trost sucht, wenn ein Verwandter gestorben ist oder wenn man morgens Brötchen für die Familie holt. Auf einer kleinen Insel wie Pellworm sind manche Menschen unentbehrlich. Vier von ihnen haben wir zum Gespräch getroffen: den Arzt Dr. Rolf-Ferdinand Gehre, 65, die Pastorin Alexandra Hector, 52, den Bäcker Georg Cornilsen, 48, und den Bestatter Karl-August Lützen, 62.

Treffpunkt ist das Restaurant „Zur Alten Kirche” im Westen der Insel. Als unsere Reporterinnen kommen, ist der Bäcker bereits da, der Arzt hat die Pastorin in seinem Notarztwagen mitgenommen, der Bestatter verspätet sich wegen eines Trauergesprächs. Viele Gäste grüßen sie mit einem lauten “Moin!”, man kennt sie hier. Natürlich, schließlich sind sie einzigen, die ihren Beruf auf Pellworm ausüben.

Herr Cornilsen, Frau Hector, Herr Gehre, angenommen, Sie hätten die Insel heute früh verlassen – was hätte den Pellwormerinnen und Pellwormern gefehlt?

Cornilsen: Warme Brötchen. Für die Hälfte der Pellwormer wäre das Frühstück ausgefallen. Die anderen hätten sich vielleicht über die Discounter versorgt, einige Leute bestellen auch übers Internet.
Gehre: Ich hatte heute einen Hubschraubereinsatz. Ein Mann kam in die Praxis und klagte eigentlich nur über einen schnellen Puls. Im Gespräch kam raus, dass er auch nicht so gut Luft kriegt und Husten bekam, alles relativ plötzlich und nicht allmählich wie bei einem Infekt. Das war mir suspekt. Wir haben dann einen Laborschnelltest gemacht, der auf eine Lungenembolie hindeutete. Der Patient ahnte gar nicht, was er mit sich schleppte. Theoretisch kann man da jede Minute umfallen und das war’s. Pellworm hat kein Krankenhaus, deshalb mussten wir den ruckzuck aufs Festland fliegen. Bei Fällen, in denen man woanders einen Krankenwagen holt, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Seenotrettungsboot oder den Helikopter zu rufen. Die kommen aus Niebüll, Heide oder Husum, das sind die nächsten Krankenhäuser. Ich habe die Rettungsleitstelle angerufen, dem Mann ein paar Notfallmedikamente verabreicht und mit ihm draußen gewartet. Wir haben 100 Meter neben der Praxis einen Sportplatz, der dient als provisorischer Landeplatz. Flugzeit sind etwa sieben Minuten. Der Hubschrauber war nach einer halben Stunde da. Das geht nicht immer so schnell. Einmal mussten wir mit einem Infarktpatienten bei Nacht und Nebel vier Stunden warten. Die Hubschrauber flogen aus irgendwelchen Gründen nicht und der Seenotretter war in der Werft. Der Patient hat das überlebt, aber das sind die Phasen des Insellebens, die für Spannung sorgen.
Hector: Wäre ich als Pastorin weg, wäre das nicht so dramatisch wie beim Doc. Ich hatte heute Morgen mit einer kleinen Gruppe Gehmeditation am Deich, eine Kombination aus Atemtraining und Bewegung. Später hatte ich einige Seelsorgegespräche. Diese Menschen hätten sonst auf jemanden vom Festland warten müssen.

Sind Sie sich Ihres Alleinstellungsmerkmals auf der Insel bewusst?

Hector: Ja. Es ist schön und schrecklich zugleich. Als Normalmensch ohne diese Funktion wäre ich nicht so leicht in die Inselgemeinschaft reingekommen. Viele brauchen mich immer wieder – bei Sterbefällen, Trauungen und Taufen. Und natürlich für ein Gebet. Ich habe den Pastorinnen-Bonus. Wenn sich die Leute bei Facebook mal wieder über Unwichtigkeiten streiten und ich das dort kritisiere, ist Schluss. Das liegt am Amt, nicht an mir. Vielleicht, weil sie mir Zauberfähigkeiten zutrauen. Nach dem Motto: Die kann nicht nur segnen, sondern auch verfluchen.

Arzt Rolf-Ferdinand Gehre

Was wissen Sie über die Pellwormer:innen, was sonst niemand weiß?

Hector: Natürlich viel, aber ich kann von keinem Fall erzählen. Nein, das verbietet meine Schweigepflicht als Seelsorgerin. Es würde sofort konkret werden. Dafür ist der Kosmos zu klein.

Für den Inseltratsch muss man also zum Bäcker gehen?

Cornilsen: Könnte man. Aber auch der Bäcker erzählt nicht alles  – zum Beispiel, welche Pärchen morgens bei mir vor der Tür knutschen. Diese Dinge passieren vor der Backstube, ich amüsier mich, und dann ist auch gut.
Hector: Beim Bäcker kriegen Sie ehrlich gesagt nichts raus.
Gehre: Fleischtheke, Supermarkt. Das ist die Nachrichtenbörse.
Hector: Die ist mega, das stimmt. 

Der Bestatter Karl-August Lützen setzt sich dazu, legt seinen Motorradhelm neben den Tisch, grüßt in die Runde. Die Bedienung ruft über die Tische hinweg: „Karl-August, magst du was trinken?“ – “Ein großes Alster, bitte!”

Herr Lützen, neben Ihrer Tätigkeit als Bestatter sind Sie auf Pellworm auch als Tischler tätig. In welchem der beiden Berufe sind Sie mehr gefragt?

Lützen: Mehr als Tischler.
Gehre: Gott sei Dank. (Alle lachen.)
Lützen: Wir haben auf der Insel etwa 12 bis 14 Beisetzungen im Jahr. Davon kann man alleine nicht leben. Als Tischlerei decken wir alles ab: Wir machen Glaserarbeiten, verlegen Teppich, beziehen Bänke, liefern Sonnenschutzanlagen.
Cornilsen: Wir brauchen übrigens noch einen Spiegel.
Lützen: Kriegen wir auch hin.

Bestatter Karl-August Lützen

Haben Sie auch mal Feierabend, wenn Sie mit ihren Jobs alleine auf der Insel sind?

Lützen: Um 18 Uhr das Telefon abstellen können wir nicht. Das muss man wissen, wenn man eine Arbeit antritt, die sonst in der Gegend keiner macht. Ich bin 24 Stunden am Tag erreichbar. Wenn hier jemand stirbt, muss ich da sein.
Hector: Ich bin auch 24 Stunden im Dienst. Hier Pastorin zu sein ist eine meiner schönsten Stellen, aber auch eine der arbeitsintensivsten. Ich habe früher als Studentin bei einem Schuhhaus gejobbt, 20 Stunden die Woche und an festen Tagen. Feierabend war meistens um 17 Uhr und es war toll, dann Schluss zu haben. Das ist jetzt anders. Ich habe immer eine leicht angespannte Grundhaltung. Wenn ich auf die Straße gehe, bin ich Pastorin Alex.
Gehre: Ich weiß nie, ob ich einen Fernsehfilm zu Ende gucken kann. Mein Pieper kann immer angehen oder das Telefon klingelt, weil jemand einen Arzt braucht.
Hector: „Wo ich dich gerade sehe …“ – das ist einer meiner Lieblingssätze, den höre ich ständig, wenn ich einkaufen gehe. Oder: Ich hätte gerne eine Taufe nächsten Monat, ist das möglich? Ich brauche einen Patenschein, kannst du mir den ausdrucken? Mein Büro habe ich aber leider nicht in der Tasche.

Ist es schwer, jemanden zu bestatten, den man kennt?
Hector: Sicher, aber es ist schwieriger, Leute zu bestatten, die ich lieb gewonnen habe. Ich habe dann auch mit meiner eigenen Trauer zu tun. Meine Berufskleidung ist dabei wie ein Schutz für mich. Du, Karl-August, hast zur Bestattung einen Anzug an. Ich trage einen Talar oder eine Albe, die meine Rolle symbolisiert. Trotzdem darf man die eigenen Gefühle nicht unterdrücken, das wäre für einen selber und die Angehörigen nicht gut.
Lützen: Ich kenne alle Familien hier, weil ich hier geboren bin. Als mein Vater gestorben ist, wurde ich mit 23 Jahren Bestatter und Chef der Tischlerei, beides habe ich von ihm übernommen. Es gibt mir ein gutes Gefühl, wenn die Beisetzung in einem schönen Rahmen abläuft und man ein Dankeschön bekommt. Ich höre des Öfteren, dass die Pellwormer es schön finden, dass ich das noch mache. Weil jemand ins Haus kommt, den sie kennen. Es ist kein Wildfremder, der die Oma holt.

Fühlen Sie sich manchmal allein? 

Hector: Ja.
Gehre: Klar. Wir können nicht mal eben einen Ersatzmann holen. Man ist immer da. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht arbeiten muss. Nicht mal im Lockdown. Doch! Zwei Sonntage habe ich gehabt, an denen überhaupt nichts los war.
Lützen: Ach. Hast du dein Telefon überprüft, ob es noch geht?
Gehre (lacht): Das muss immer funktionieren. Ich nehme den Pieper und das Telefon bis unter die Dusche mit. Es gab Momente, da bin ich wirklich mit Handtuch um den Kopf losgeflitzt, um zu einer Patientin zu kommen. In dem Moment, als einziger oder einzige auf der Insel, sind wir eben nicht ersetzbar. Das muss man aushalten und akzeptieren können. Ich kann ja auch nicht Georgs Brötchen backen.
Cornilsen: Wenn man bestimmte Situationen gemeistert hat, ist das Gefühl danach toll. Je länger man da ist, desto mehr kriegt die Gemeinschaft den Einsatz auch mit.
Lützen: Viele Menschen nehmen es als selbstverständlich, dass man da ist und seine Arbeit anbietet. Wenn man aber zumacht, merken viele erst, was sie an einem hatten.
Hector: Viele Insulanerinnen kommen sonntags nicht zur Kirche. Aber wenn ich nicht da bin, wenn im Pfarrhaus kein Licht brennt, finden das die Leute irritierend. Es ist für sie beruhigend zu wissen, dass eine Pastorin auf der Insel ist. Ob man sie selbst braucht oder nicht – Hauptsache sie ist da. Und das ist auch ein schönes Gefühl.

Pastorin Alexandra Hector

Wünschen Sie sich manchmal weitere Ärzte oder Pastorinnen auf der Insel, die Ihnen den Druck nehmen? 

Hector: Klar. Es gibt auch Tage, an denen ich mich überfordert fühle. An denen ich denke: Puh, ich muss alles alleine regeln. Das hatte ich in den Großstadtgemeinden nicht. Aber wenn es geschafft ist, geht’s mir gut. Und wenn ich selbst mal um Hilfe rufe, kriege ich sie auch. Das ist eine Qualität der Inselgemeinschaft.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Hector: Unser Friedhofsgärtner hat die Insel kurzfristig verlassen. Und ich dachte: Mist. Was mach’ ich denn jetzt? Ich kann nicht auch noch Rasen mähen. Ich habe jemanden angerufen, der hier einen Gartendienst hat. Der hatte schon bis Oberkante zu tun. Und ich sagte: Ganz ehrlich, ich brauche deine Hilfe. Kannst du das machen? Er hat’s möglich gemacht. Das ist eine großartige Familie hier.

Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?

Gehre: Irgendwann vor Corona.
Hector: Vor zwei Wochen.
Lützen: Urlaub. Was war das noch mal?
Hector: Ach, ihr fahrt auch mal, Karl-August.
Lützen: Mal drei Tage. Ich fahre hin und wieder mit meinem Moped los. Aber mit meiner Frau? Puh. Das ist sieben, acht Jahre her.
Cornilsen: Wir waren wegen Corona die letzten zwei Jahre zu Hause. Wenn wir im Winter wieder nicht wegfahren können, machen wir in den Sommerferien nächstes Jahr zwei Wochen dicht. Das wollen wir uns nicht nehmen lassen.

Welche Vorkehrungen müssen Sie vor einer Reise treffen? 

Hector: Wenn ich weg sein will, melde ich das der Propstei, und es gibt eine Stellvertretung für Beerdigungen. Das macht der Kollege von der Halbinsel Nordstrand. Für die Sonntagsgottesdienste muss ich Vertretungen organisieren. Erst wenn ich das geregelt habe, kann ich in den Urlaub fahren.
Cornilsen: Wenn wir in den Urlaub fahren wollen, machen wir zwei Wochen vorher einen Aushang. Einige decken sich vorher mit Broten ein, andere versorgen sich anderweitig. Wenn wir zurückkommen, ist es toll, wenn die Kunden sagen: Jetzt können wir wieder deine Brötchen essen.
Gehre: Ich freue mich auch immer wieder, wenn euer Urlaub vorbei ist und ich meine Lieblingsbrote kaufen kann. Und Kürbiskernbrötchen …
Lützen: Die Kieler-Brötchen, die sind besonders lecker bei ihm.
Hector: Der Bienenstich!
Lützen: Wenn ich in den Urlaub fahre, vertritt mich mein Bestatter-Kollege in Husum. Die Tischlerei ruht, das ist kein Problem.
Hector: Karl-August und ich, wir informieren uns immer gegenseitig, wenn wir mal nicht da sind.
Gehre: Ich kann nicht mal einfach so eine Wanderung nach Süderoog machen, weil ich immer hier in der Nähe bleiben muss. Ich bin hier auch der Notarzt, das heißt: Ich muss in bis zu acht Minuten in meinem Notfallauto sitzen können. Weiter darf ich gar nicht weg, so gibt das der Rettungsdienst vor. Deshalb kann ich nicht mal eben schwimmen gehen, meine Radtouren müssen auch im Zirkel meines Autos bleiben. Bis zum Bäcker und wieder zurück, das schaffe ich. Aber Urlaub kann ich nur machen, wenn ich einen Vertreter finde. Ganz ohne Arzt geht’s einfach nicht.

Und wenn Sie keine Vertretung finden? 

Gehre: Ich brauche immer einen, der mich ersetzt. Ich hatte eine sehr nette Kollegin, die aber letztens die Insel verlassen hat. Wir brauchen dringend eine Nachfolgerin für sie. Bis dahin kann ich nicht verreisen.
Hector: Ich brauche Urlaub. Darauf bestehe ich auch. Wenn ich keine Vertretung finde, regelt das die Propstei für mich. Ich kann nicht ein Jahr durcharbeiten.
Lützen: Mein Job als Bestatter fällt ja unter die freie Marktwirtschaft, ich könnte auch ohne Stellvertreter fahren. Das verbietet mir aber meine Einstellung.

Bäcker Georg Cornilsen

Könnten Sie sich vorstellen, für immer auf Pellworm zu bleiben, oder ist irgendwann Schluss? 

Lützen: Für mich und meine Frau steht fest, dass wir hier alt werden. Wenn Gott es zulässt.
Hector: Meinst du, der entscheidet das?
Lützen: Ich weiß es nicht. Unsere beiden Töchter wohnen auf dem Festland, wir beschäftigen uns mit der Frage schon seit ein paar Jahren. Wenn man ein Enkelkind bekommt, denkt man schon darüber nach, ob man den Kindern nicht hinterherziehen sollte. Aber die Entscheidung ist gefallen, wir bleiben hier.
Cornilsen: Wir wissen es auch noch nicht. Wir wohnen über der Backstube, alles ist in einem Haus. Wenn wir den Betrieb abgeben, müssen wir umziehen. Wenn nicht, müssen die Kinder die Bäckerei weiterführen. Die sind jetzt acht und zehn. Ob die das wollen, ist eine andere Frage.

Würden Sie sich wünschen, dass Ihre Kinder die Backstube übernehmen? 

Cornilsen: Ganz ehrlich: nein. Ich würde mir wünschen, dass meine Kinder ihr Geld einfacher verdienen können als so. Das Problem an meinem Job ist: Wenn du es richtig machen willst, kannst du nicht nur fünf Tage die Woche arbeiten. Vor allem, wenn du selbstständig bist. Die Leute wollen ja sieben Tage die Woche Brötchen. Meine Kinder können gerne Bäcker werden, wenn sie wollen. Aber wenn nicht, bin ich auch nicht unglücklich.

Machen sich die anderen auch Gedanken um die Nachfolge?


Lützen: Auf alle Fälle. Ich bin Bestatter in dritter Generation. Wenn ich aufhöre, wird es hier vermutlich keinen Bestatter mehr geben. Dann muss das der Kollege aus Husum abdecken. Es gab schon mal einen jungen Mann, der wollte die Tischlerei und auch die Bestattung übernehmen. Fünf Tage vor dem Notar hat er mich angerufen und abgesagt. Seine Gründe hat er nicht genannt. Das musste ich so akzeptieren. Der kam nicht von der Insel und hat es sich im letzten Moment wohl anders überlegt.
Gehre: Wir suchen ja wie wild nach einer zweiten Kraft. Es ist generell schwierig, Landärzte zu finden, und dann auch noch für eine Insel. Das passt nicht in jeden Lebensrhythmus rein, 24 Stunden am Tag arbeiten, 7 Tage die Woche. Im Winter muss man sich selbst beschäftigen können, weil dann die Touristen ausbleiben und recht wenig los ist.  Shoppingmalls oder so etwas in der Art gibt es ja beispielsweise auch nicht.
Hector: Wenn ich gehe, wird die Pfarrstelle halbiert, das steht schon fest. Dann wird nur das Nötigste abgedeckt: Beerdigungen, Trauungen, Taufen, Gottesdienste und mit Glück Konfirmandenarbeit und eingeschränkte Seelsorge. Alles andere fällt vermutlich weg: Ich mache Seelsorge für Urlauber und schlichte mit Mediation, arbeite im Seniorenkreis und unterrichte einen Tag in der Schule Religion. Der persönliche Kontakt würde weniger werden, weil keine dauerhafte Ansprechperson mehr da ist. Das ist kein schönes Gefühl. Ich denke aber darüber nach, auf der Insel zu bleiben. Ich spüre inzwischen eine Verantwortung für die Inselgemeinde. Pellworm ist mir sehr ans Herz gewachsen.

von

Maximilian König
Marvin Ku