Der Griff nach den Sternen
Pellworm ist einer der dunkelsten Orte Deutschlands – beste Voraussetzungen, ein Sternenpark zu werden. Wenn nur die Wolken nicht wären.
Pellworm ist einer der dunkelsten Orte Deutschlands – beste Voraussetzungen, ein Sternenpark zu werden. Wenn nur die Wolken nicht wären.
Foto: Maria Rohweder
23:00 Uhr: Norderdeich
Es gibt zwei Sorten von Dunkelheit. Die richtige und die falsche. Jetzt herrscht die falsche auf Pellworm: Wolken verdecken den Himmel. Und die Sterne. Doch wegen denen sind Oliver Jedath und Thomas Tallowitz hier, die selbst ernannten Sternfreunde, die Pellworm zur ersten Sterneninsel Deutschlands machen wollen.
Was nichts anderes bedeutet als: die Nordseeinsel so dunkel zu machen, dass der Nachthimmel umso schöner strahlt.
An der Badestelle Hörn im Norden der Insel halten Jedath und Tallowitz an. Wie ein Scherenschnitt thront eine Mühle auf dem Deich. Das Hellblau am Horizont ist inzwischen einem tiefen Nachtblau gewichen. Tallowitz schaut zum Himmel.
Keine Sterne.
„Naja, wir sind leidgeprüft“, sagt Jedath. Eine Stirnlampe bescheint Gesicht und Vollbart, im Lichtkegel umsurren ihn Mücken und Fliegen. Die Nordseeinsel ist zwar einer der dunkelsten Orte Deutschlands, aber wenn Wolken den Himmel verhängen, bringt das auch nichts. Dabei soll hier, wo die Sternfreunde stehen, ein Ort für ambitionierte Sternegucker:innen entstehen, für solche mit Teleskopen und Kameras.
Dafür bemühen sich Jedath und Tallowitz, ein Zertifikat zu erhalten von der International Dark Sky Association (IDA), die in Deutschland bereits vier Sternenparks abgesegnet hat: den Naturpark Westhavelland, das Biosphärenreservat Rhön, den Nationalpark Eifel, die Winklmoosalm und, als erste Stadt, Fulda.
Auf dem Weg zum Zertifikat für Pellworm unterstützt sie der Astronom Andreas Hänel. Er ist Leiter der Deutschen Fachgruppe der Dark Sky Association. Weil er an diesem Abend nicht auf Pellworm sein kann, schaltet er sich per Zoom zu.
Hänel strahlt in die Kamera, hinter seinem Gesicht leuchten Sterne. „Ich habe mir den Himmel von Pellworm als Hintergrund eingestellt“, sagt er mit rheinischem Akzent und lacht. 3.000 bis 4.000 Sterne könne man in mondlosen Nächten von der Insel aus erkennen. In deutschen Innenstädten sind es meist nur einige Dutzend. Jetzt sind es über der Nordsee allerdings noch weniger. „Die Wolken sollen sich aber noch auflösen“, sagt Hänel. „Erst hieß es 22 Uhr, dann 23 Uhr, jetzt Mitternacht“, sagt Thomas Tallowitz. „Bleibt spannend.“
Der Sommer ist nicht die optimale Zeit zum Sternegucken, sagt Hänel, weil es auf Pellworm so lange hell bleibt. Besser ist der Frühling, dann sieht man sogar das Zodiakallicht: einen breiten Lichtkegel am Horizont, verursacht durch Lichtstreuung an interplanetaren Staubwolken.
„Es gibt nur noch wenige Orte, an denen man den Nachthimmel so gut sehen kann wie auf Pellworm“, sagt Tallowitz. „Die Insel eignet sich auch deshalb so gut zum Sternegucken, weil die helleren nordfriesischen Inseln Amrum, Sylt und Föhr weit genug entfernt liegen.“ Deren Lichtglocken seien zwar zu sehen, störten aber nur wenig. Bloß der Leuchtturm von Westerheversand sei ein bisschen ärgerlich, sagt Hänel.
Aber sogar Pellworm ist noch zu hell. Um dunkler zu werden, hat die Gemeinde bereits rund 50.000 Euro ausgegeben und im Dezember 2019 eine Lichtleitlinie verabschiedet. Sie verpflichtet, den Nachthimmel als „besonders wertvolle und schützenswerte natürliche Ressource“ anzuerkennen. Ziel: die „erforderliche künstliche Nachtbeleuchtung nachhaltig und blendfrei einzurichten“, die UV- und Blauanteile zu begrenzen und die Lichtstärke zu reduzieren. Und überhaupt: Licht soll nur leuchten, wann und wo es notwendig ist.
„Mensch, Oliver, kannst du nicht rotes Licht nehmen?“, fragt Tallowitz seinen Sternenfreund. Jedath schaltet seine Stirnlampe von Weiß auf Rot. Kurze Zeit später fliegen ihm keine Insekten mehr ums Gesicht. „Ein super Beispiel“, sagt Hänel. „Wenn man den Blauanteil im Licht reduziert, zieht das keine Insekten an, die dann nur unter den Lampen verenden würden.“ Jedath nickt. „Wie die unterschiedliche Lichtfarbe wirkt, sehen wir gleich am Alten Hafen.“
Und vielleicht, vielleicht könne man später noch den Jupiter sehen, sagt Hänel. Oder den Bärenhüter. Mal abwarten, was die Wolken machen.
Über Zoom mit dabei: Der Astronom Andreas Hänel. Vorbildlich mit rotem Licht angestrahlt von Oliver Jedath.
Über eine App hat Hänel auch von zu Hause in Osnabrück aus den Überblick, welche Sterne über Pellworm gerade sichtbar sind.
23:30 Uhr: Hafen
Die Tampen schlagen gegen die Masten der Krabbenkutter, Möwen kreischen, es riecht nach abgestandenem Salzwasser und Schlick. Der Hafen liegt still, bis auf die Sternfreunde ist niemand unterwegs. Einige Fischkutter tragen Lampen an ihren Masten, die meisten sind unbeleuchtet. Oliver Jedath deutet auf die Straßenlaternen über seinem Kopf: „140 öffentliche Laternen haben wir bisher umgerüstet“, sagt er.
Die Leuchten am Hafen haben jetzt zum Beispiel flache Köpfe mit vier Reihen kleiner LEDs, die nur wenig streuen, und nur nach unten. Und sie leuchten warm- statt blauweiß. Alles für das Zertifikat. Es sieht vor, dass die Farbtemperatur der Straßenbeleuchtung nicht mehr als 2700 Kelvin betragen darf. Bei der umgerüsteten Beleuchtung haben sie es sogar geschafft, die Farbtemperatur auf 2200 Kelvin zu senken. So bildet sich keine Lichtglocke über dem Alten Hafen. Tatsächlich schwirrt kein einziges Insekt um die Straßenlaternen.
Lichtverschmutzung ist nicht nur schlecht für Sternengucker, sie schadet auch Insekten und Vögeln, die in ihren Flugrouten irritiert werden. Weniger Licht spart außerdem Energie. „Auch für uns Menschen ist das gut“, sagt Oliver Jedath. „Dass Lärm uns schadet, wissen wir alle. Aber wer sich wirklich erholen will, braucht die Dunkelheit für einen natürlichen und gesunden Schlafrhythmus.“
Jedath war früher Projektmanager und ist nach Pellworm gezogen, um genau das zu finden: Erholung. Für die Sterneninsel kämpft er, seit er bei einer Gemeinde-Veranstaltung davon gehört hat. „Ich liebe die unheimliche Weite des Nachthimmels“, sagt er. „Man kommt sich klein vor und fängt an, zu philosophieren. Zum Beispiel darüber, ob wir hier im Kosmos tatsächlich allein sind.“
Doch der Kosmos zeigt sich noch immer nicht am Himmel über Pellworm.
Bevor er nach Pellworm zog, arbeitete Oliver Jedath als Projektmanager.
Das Wissen aus seinem alten Job nutzt er jetzt für das Ziel,
Pellworm zur „Sterneninsel“ zu machen.
00:10 Uhr: Angelteich
Unter den vielen dunklen Orten Pellworms gehört der Angelteich zu den dunkleren, erzählen Jedath und Tallowitz, als sie den westlichen Deich der Insel hochlaufen und versuchen, dem Schafsmist auszuweichen. Hinter ihnen erhebt sich meckernd ein Gänseschwarm in den Himmel, die Schafe weichen von der Deichkrone hinab an die Wasserkante. „Die behalten uns jetzt im Blick“, sagt Tallowitz. Der Vollmond beleuchtet die Nordsee, gerade ist Flut, das Wasser schwappt sachte an die Insel. Austernfischer tschilpen. Ansonsten: Stille.
Andreas Hänel ist wieder zugeschaltet und strahlt vor seinem Pellwormer Nachthimmel in die Kamera. „Meine Wetter-App sagt, die Wolken haben sich verzogen?“
Tatsächlich: Über dem Meer funkeln die Sterne. Endlich die richtige Dunkelheit.
„Im Südosten müsste man jetzt den Jupiter sehen“, sagt Hänel. „Und den Saturn. Und neben dem Großen Bären den Bärenhüter!“ Thomas Tallowitz deutet auf eine lange Reihe von Sternen. „Ich kann die Sternenbilder noch nicht hundertprozentig zuordnen“, sagt er. „Aber da oben erkenne ich gerade den Pfeil.“
Hell strahlen die Gestirne im dunklen Blau. Sie leuchten und blinken, verteilt über den Nachthimmel, als Schemen, als Muster. 200 oder 300 Sterne könne man wahrscheinlich gerade sehen, schätzt Hänel. „Ist ja Vollmond heute, deshalb nicht so richtig gut.“ Der Mond, noch so ein Dunkelheitsverhinderer. Im Frühling oder Herbst, bei Neumond, könne man von hier sogar die Milchstraße sehen.
Hänel schlägt vor, zum Solarfeld zu fahren, mitten auf der Insel. Ins Herz der Finsternis. Kaum Lichtquellen weit und breit. Vielleicht kann man dort den Delfin sehen. Oder die Teekanne neben dem Mond.
01:10 Uhr: Das Solarfeld
„Mist.“ Thomas Tallowitz legt den Kopf in den Nacken. Wieder die falsche Dunkelheit. Wolken. Keine Teekanne, kein Delfin, nicht einmal der Jupiter lugt hervor. Nur der volle Mond leuchtet weiterhin stoisch.
Hier am Solarfeld, erzählt Tallowitz, wollen sie einen Sternenpfad einrichten, der bis zur City führt. Infotafeln, für Familien und Kinder, nicht für die Astrotouristen. „Das Solarfeld ist ab vom Schuss und deshalb von störenden Lichtern abgeschirmt“, sagt Tallowitz. „Im Grunde ist das ein guter Ort.“
„Man sieht heute immerhin sehr gut den Hasen im Mond“, sagt Thomas Tallowitz. Für ihn seien vor allem die Mythen und Legenden zum Nachthimmel faszinierend, sagt er. „Überall auf der Welt erzählen sich Menschen Geschichten zu den Sternbildern. Wir sehen einen Mann im Mond. In Asien sehen sie einen Hasen. Das finde ich faszinierend.“
„Wo siehst du denn da einen Hasen?“, fragt Jedath. „Ich sehe den Hasen nie.“
„Du hast halt keine Fantasie.“
Wer nachts auf Pellworm unterwegs ist, sollte eine Lampe dabei haben. Und auf einen klaren Himmel hoffen.
01:30 Uhr: Nachtfahrt
Ab 22 Uhr sind die Straßenlampen auf Pellworm aus; an Sommertagen wie heute bedeutet das: Sie werden gar nicht erst eingeschaltet. Die beiden Sternfreunde fahren über die dunklen Straßen und suchen nach einem schlechten Beispiel. Das heißt: Nach jemandem, der sein Haus zu viel und falsch beleuchtet. So wollen sie zeigen, was jede:r gegen Lichtverschmutzung tun kann.
Tallowitz parkt vor einem hell erleuchteten Hof. „Wenn wir wirklich immer dunkler werden möchten, müssen wir die Menschen begeistern“, sagt er. Bei den meisten sei das auch geglückt. „Aber manche reagieren sehr emotional und fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt.“
Doch die Lichtleitlinie gilt nicht für Privatleute, sie dürfen leuchten, wie sie wollen. So wie der grelle Hof, vor dem sie stehen. „Die haben diese Up- and Down-Spotter“, sagt er. „Das Haus sieht dadurch aus wie ein Ufo, finde ich. Total unnötig.“ Die Leuchten erhellen die Außenwände und malen Lichtstreifen ober- und unterhalb der Spotter auf die Ziegel. „Sieht vielleicht schick aus, ist aber total vermeidbar“, sagt Tallowitz.
Auf dem Parkplatz entdeckt er noch ein anderes Problem: Eine im Beet aufgepflockte, runde Lampe, die das Licht zu allen Seiten streut. „Was man als Privatperson am leichtesten beachten kann: Licht aus, wenn es nicht gebraucht wird“, sagt Tallowitz. „Und wenn es unbedingt sein muss: Wenigstens nicht nach oben leuchten, sondern nur fokussiert und nach unten.“ Das mindert die Lichtverschmutzung.
„Dunkelheit ist etwas, wofür wir nichts tun müssen – nichts, außer auf übertriebene Beleuchtungsansprüche zu verzichten“, sagt Jedath. Tallowitz nickt. „Wo hört Beleuchtung auf und wo fängt Protz an?“
Plötzlich gehen die Lichter am Hof aus. Es ist kurz nach halb zwei, ein unwahrscheinlicher Moment für eine Zeitschaltuhr. „Vermutlich haben sie uns bemerkt“, sagt Thomas Tallowitz und hüpft von der Auffahrt zurück auf die Straße, in die Dunkelheit. Die richtige. Dorthin, wo er am meisten sehen kann.
***
Hell leuchtet das Handydisplay auf, eine Woche ist vergangen, der Sternfreund hat gute Nachrichten: „Moin Frau Luck, Pellworm ist nun anerkannte Sterneninsel. Viele Grüße Oliver Jedath.“