Wenn ich alleine rumsitze und grüble, gehe ich zu Edeka

Eine Reise über die Insel in Empfehlungen – von einem Pellwormer zum nächsten. Und von einem Gespräch zum nächsten: über Gelassenheit, Freisein und Güllewagen

Als wir auf Pellworm ankommen, haben wir viele Fragen: Wie lebt es sich dort als junger Mensch? Fühlt man sich auf einer Insel mit nur sieben Kilometer Durchmesser nicht eingeengt? Und wie ist es, neu zu sein in einer Gemeinschaft, in der bereits die Großeltern zusammen die Schulbank drückten? All das wissen nur die Pellwormer:innen. Deshalb fragen wir uns bei ihnen durch. Und lassen uns weiterschicken, von einer Person zur nächsten.

Wir entscheiden uns, in der Kneipe zu beginnen. So ein Wirt kennt doch immer alle und jeden. Arno Thomsen, 55, führt den Pub im Hafen. Er serviert dort Fischplatten und Krabbenbrot, Schnitzel mit Bratkartoffeln und Flensburger vom Fass.

Arno Thomsen ist der Besitzer und Wirt von „Arnos Hafenpub“.

„Jetzt, im Sommer, kommen vor allem Touristen. Die Pellwormer gehen eher vor oder nach der Saison essen. Im Sommer haben die meisten von uns zwei Jobs, um über den Winter zu kommen. Hier hilft man sich, auch wir Gastronomen. Wir sprechen uns mit Urlaub und Ruhetagen ab. Und sollte ich mal ein Bierfass brauchen, kann ich jeden anrufen. Wenn zwei Pellwormer im Bus nach Husum sitzen, reden die miteinander. Auch wenn der eine 15 und der andere 80 Jahre alt ist.

Arno, wer kennt die Insel am besten? 

Er schickt uns zu Emmy Jensen, 90. Ihr Haus duckt sich an den Junkersmitteldeich. Erbaut wurde es 1791, verrät eine Inschrift über der Tür. Im Haus hängen die Wände voller Bilder, alle von Emmy gemalt. Die meisten zeigen wenig Meer und viel Himmel.

Emmy Jensen bezeichnet sich selbst als „Himmelsmalerin“.

„Wären Sie mal gestern zum Leuchtturm gekommen! Da erzähle ich jeden Dienstag Geschichten über mich und Pellworm. Ich wurde vor 90 Jahren auf der Insel geboren. Als ich klein war, hatten wir weder Strom noch eine Wasserleitung. Wir mussten Regenwasser sammeln. In einem besonders trockenen Sommer reichte das einmal nicht aus. Mein Vater bohrte deshalb ein 57 Meter tiefes Loch in den Boden. Das Wasser sprudelte, aber natürlich war es salzig. Am Ende brachte uns ein Schiff vom Festland Süßwasser. Ansonsten ist mein Leben geruhsam. Hier auf Pellworm leben viele Hundertjährige. Das liegt nicht an der Luft, sondern an der Gelassenheit. Wir müssen unsere Haustüren nicht abschließen, und in meinem Auto steckt immer der Schlüssel. Wenn ich in der City in Tammensiel bin, könnte ich zwanzigmal stehenbleiben und Klönschnack halten.

Emmy, mit wem müssen wir noch sprechen, um Pellworm zu verstehen?

Emmy schickt uns zu Heinz Clausen, 85. Als wir bei seinem Haus am Kaydeich ankommen, hält er gerade Mittagsschlaf. Das erfahren wir von seinen Söhnen, die zu Besuch auf Pellworm sind. Eine Stunde später sitzt Clausen auf einer hellblauen Bank vor seinem Haus und löst Teekesselchen.

Sammelt Fotos und Zeitungsartikel über Pellworm: Heinz Clausen.

„Nach der zehnten Klasse, nach Erreichung der mittleren Reife, ging ich aufs Festland. Die Kinder, die Abitur machen wollen, müssen dort zum Gymnasium, das ist meistens auch für die Berufsausbildung erforderlich. Unter der Woche wohnen sie meistens zusammen in WGs. Viele junge Leute bleiben danach weg, weil sie das Gefühl haben, dass hier nichts los ist, aber auch, weil die von ihnen angestrebten Berufsmöglichkeiten hier oft nicht angeboten werden können. Ich habe zu meiner Zeit den Schützenverein mitgegründet, den Turnverein wieder ins Leben gerufen, bin in die Feuerwehr eingetreten, habe das Deutsche Rote Kreuz Pellworm, den Yachtclub, den Ortskulturring und ein paar andere Vereine aufgebaut. In vielen Vereinen war ich im Vorstand. Einige Vereinsarbeit als Kassierer konnte ich teilweise auch im Büro erledigen. Ich habe 41 Jahre die Pellwormer Sparkasse geleitet. Ich habe nie überlegt, hier wegzugehen: Ich hatte ja immer etwas vor. Heute sammle ich Fotos, Zeitungsartikel und Bücher über Pellworm, die Halligen und Nordfriesland. Mein Fotoarchiv umfasst ungefähr 15.000 Bilder.

Heinz, wer kann uns sagen, wie es ist, neu auf Pellworm zu sein? 

Heinz schickt uns zu Ralph Drescher, 46. Er arbeitet in „Helga’s Hafenbüdchen“ an der Theke. Nach Feierabend zapft er sich ein Bier und setzt sich mit uns an den Hafen.

Ralph Drescher fühlt sich von den Pellwormern gut aufgenommen.

„Ich bin im letzten Jahr aus Berlin hergezogen. Pellworm ist das komplette Gegenteil. Den Winter hier muss man ertragen. Die Tage sind lang und dunkel, viele Geschäfte haben geschlossen. Fehlen tut mir trotzdem nichts, außer vielleicht ein gutes italienisches Restaurant. Aber so was esse ich dann in Husum, wenn ich beim Zahnarzt bin. Die Leute hier haben mich herzlich aufgenommen. Nur eine Sache mögen die Pellwormer gar nicht: Wenn hier Städter ankommen und ihnen die Welt erklären wollen. Und egal, wie sehr du dich einbringst, du wirst immer Zugezogener bleiben. Mittlerweile wohnt auch meine Familie auf Pellworm. Vor Kurzem ist mein Bruder hergezogen, letzte Woche habe ich meine Eltern hergeholt. In der nächsten Saison will ich meinen eigenen Imbiss aufmachen, direkt neben Helga.

Ralph, wieviel Freiheit hat man auf einer so kleinen Insel? 

Ralph schickt uns zu Suse Bissel, 54. Sie arbeitet im Modestübchen in Tammensiel. Als wir dort ankommen, haben wir sie knapp verpasst. Im Edeka gegenüber könnten wir sie erwischen, sagt ihre Kollegin. Wir treffen sie an der Kasse. Suse lädt uns zu sich nach Hause ein, 50 Meter die Straße runter. Auf der Insel ist alles um die Ecke – ist so viel Nähe nicht auch erdrückend?

Vor vier Jahren verkaufte Suse Bissel ihr Hab und Gut und zog auf die Nordseeinsel.

„Nein, wieso? Für mich ist das Luxus. Ich war schon als Kind oft auf Pellworm – zum Urlaubmachen. Dann haben die Insel und ich uns einige Jahre aus den Augen verloren. Als ich Ende der neunziger Jahre zum ersten Mal wieder hier war, fragte mich jemand: Wo warst du so lange? Ich habe mich sofort wieder wohlgefühlt. Nach meiner Scheidung und einem Autounfall stand 2017 für mich fest: Ich will einen Neustart. Ich habe alles, was ich hatte, verkauft und bin nach Pellworm gezogen. Wenn man sich für die Insel entscheidet, sollte man aus dem alten Leben möglichst wenig mitnehmen. Hier braucht es keine Planung. Man muss sich treiben lassen. Um 17:35 Uhr wird die Fährbrücke hochgeklappt, dann kommt bis zum nächsten Morgen niemand weg. Eingeengt fühle ich mich deshalb nicht. Wenn ich Freiheit brauche, gehe ich auf den Deich. Und wenn ich alleine rumsitze, gehe ich zu Edeka. Da trifft man immer jemanden. Man vereinsamt in einer Mietwohnung in einer Großstadt, nicht auf Pellworm.

Suse, verändern die Neuen die Insel? 

Suse schickt uns mit dieser Frage zu Heini Bütter, 66. Auch er hat einen kurzen Arbeitsweg. Man übersieht sein Haus beinahe, weil es von drei gewaltigen Hallen eingerahmt wird. Darin stehen mehr als 50 Landmaschinen, aber auch Pferdekutschen, Badewannen und ein Auto, das die örtliche Feuerwehr zu Übungszwecken schwer zugerichtet hat. Heini führt das größte Lohnunternehmen der Insel, sagt er. Seine Mitarbeiter fahren mit den Landmaschinen auf die Felder und übernehmen die schweren Arbeiten für die Landwirte: Pflügen und Ernten, so viel verstehen wir, aber auch Häckseln, Walzen und andere Tätigkeiten, die wir googeln müssen.

Heini Bütter ist besorgt, dass sich die Insel bald verändert.

„Bald übergebe ich das Geschäft komplett an meinen Sohn. Ich mache mir Sorgen, dass sich die Insel verändert. Leute vom Festland, die hier Häuser kaufen, ticken oft anders als wir. ‚Oh, Gänse, wunderbar‘, sagen sie dann. Wir ärgern uns aber über die Scheißviecher, weil sie die Ernte kaputt machen. Diese Leute regen sich auch auf, wenn wir mit dem Güllewagen an ihnen vorbeifahren. Grünlinge sind das, Umweltschützer.

Heini, wie ist es, jung zu sein auf Pellworm? 

Heini schickt uns zu Dag Jensen, 27. Auf seinem Hof begrüßt uns ein Schäferhund, der einen zerkauten Fußball jagt. Dag setzt sich in einen Strandkorb auf der Terrasse, nebenan muhen seine Kühe.

Dag Jensen wird bald den Hof seines Vaters übernehmen.

„Wir versorgen hier täglich 140 Kühe. Viele Landwirtschaftsbetriebe hören auf, weil sie keine Nachfolger finden. Wer mit 16 von hier weg will, wird weggehen. Für mich ist das keine Option. Ich bin auf dem Hof aufgewachsen, das hier ist meine Heimat. Nach dem Abitur habe ich auf dem Festland studiert. Aber mir war immer klar, dass ich auf die Insel zurückwill. Ich bin jetzt 27 Jahre alt und bewirtschafte mit meinem Vater zusammen unseren Hof. Es wäre cool, wenn jemand in meinem Alter eine Kneipe aufmachen würde. Dann hätten auch wir Jungen einen Ort, wo man sich einfach so trifft. Denn: Es sind die Menschen, die Pellworm ausmachen, die vielen kleinen Persönlichkeiten. Man kennt sich hier. Und man kennt auch die Oma und den Opa von allen.“ 

Wir fragen Dag, mit wem wir noch sprechen müssen, um Pellworm zu verstehen. Er hört sich unsere bisherigen Stationen an und nickt. „Das klingt doch eigentlich ganz gut.“

von

Sara Wess
Malte Born