Die Legende von der versunkenen Stadt
Im nordfriesischen Wattenmeer ging im Mittelalter ein Handelszentrum unter, das sagenumwobene Rungholt. Manche sprechen vom Atlantis der Nordsee. Hellmut Bahnsen weiß mehr.
Im nordfriesischen Wattenmeer ging im Mittelalter ein Handelszentrum unter, das sagenumwobene Rungholt. Manche sprechen vom Atlantis der Nordsee. Hellmut Bahnsen weiß mehr.
Symbolbild Rungholt. Illustration: Laura Binder
Fünfzig Jahre lang hat Hellmut Bahnsen Scherben gesammelt. Jetzt gehen ihm die Jahre aus, und ein bisschen auch das Geld.
„Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans.“
Fünfzig Jahre lang spürte er im Watt vor der nordfriesischen Insel Pellworm nach einem Mythos: nach Rungholt, einer legendenumrankten mittelalterlichen Handelsstadt, versunken im Schlick.
„Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Trutz, Blanke Hans.“
Damals, als er anfing zu sammeln, kannten die Menschen auf Pellworm nicht viel mehr von Rungholt als ein paar Schauergeschichten, sagt Bahnsen: Bei ruhiger See würden die Glocken der versunkenen Stadt über das Wasser läuten. Irgendwo nordöstlich von Pellworm spuke bei Ebbe eine Frau im roten Rock. Man erzählte sich von Schätzen und von goldenen Gassen im Watt. In der Schule lernte er die Ballade von Detlev von Liliencron:
„Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Trutz, Blanke Hans?“
Hellmut Bahnsen wollte aus Legenden Geschichte machen. Also ging er ins Watt, um zu suchen. Er hat Scherben gesammelt, vor allem aber Wissen. Er hat Ofenkacheln gefunden, Tonkrüge, Menschenschädel, viele Tausend Splitter. Manche Stücke hat er ins Labor geschickt, um ihr Alter bestimmen zu lassen, er hat sich mit Archäologen ausgetauscht und alte Chroniken durchsucht. Er hat gelernt, dass etwas dran ist an der Erzählung von der Hybris der Rungholter: dass sie untergingen, weil sie zu selbstgefällig waren, zu gierig. Und doch war es natürlich ganz anders, als die Legende sagt.
Sie geht so: Bei einem Trinkgelage, es muss um 1300 gewesen sein, machen ein paar Männer, wild vom Wein, ein Schwein betrunken. Sie setzen ihm eine Schlafmütze auf und legen es ins Bett. Sie lachen, sie grölen, sie rufen den Pfarrer, er möge den Todkranken salben. Der Geistliche weigert sich. Die Männer drohen ihm Schläge an, zerren ihn zum Bett und schütten Bier über seine Hostien. Empört von der Schändung des Sakraments betet der Pfarrer zu Gott. Rungholt soll büßen.
In der folgenden Nacht zieht Sturm auf. Und während die Herren der Stadt noch immer auf den Deichen stehen, geblendet von ihrem Reichtum, und meinen, sie könnten dem Blanken Hans trotzen, der tosenden Nordsee, steigt die Flut vier Ellen hoch über die Deichkronen, verschluckt die Stadt und alle darin ertrinken.
Hellmut Bahnsens Museum ist ein garagengroßer Holzschuppen neben seinem Haus im Westen von Pellworm. Die Verabredung hat er vergessen. Egal, er hat ohnehin nur noch selten Museumsgäste und entsprechend Zeit. „Erst mal Eintritt“, sagt er und schließt den Schuppen auf. „Wenn ich erzählen soll, kostet das extra.“
Draußen hängt ein Zettel: „Die Coronakrise hat vielen Leuten Unglück und Verluste eingebracht. So wie uns mit unserem kleinen Museum. Um es für die Besucher weiter in Stand zu halten, verkaufen wir alles, was man verkaufen kann.“ Nebenan steht das Garagentor offen, Bahnsens Flohmarkt. Gegen eine Spende gibt es hier alte Gummistiefel, Lampen, Werkzeug und Geschirr.
Bahnsen ist dieses Jahr 80 Jahre alt geworden. Er kam auf der Insel zur Welt, ging hier zur Schule, fuhr als Schiffsjunge auf Kuttern mit, machte nie eine Ausbildung. Als auf den Schiffen keine Ungelernten mehr gebraucht wurden, brachten ihn Willy Brandts Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zum Küstenschutz: Deiche ausbessern, Holzpflöcke ins Watt schlagen, Reisig dazwischenbinden, um neues Land zu gewinnen. Manchen Sommer vermieteten er und seine Frau Rita zwei Zimmer im gemeinsamen Haus. Im Winter war er arbeitslos. Dann half er Zimmerleuten, tapezierte fremde Wohnzimmer, strich Wände. „Schwarzarbeit mit weißer Farbe“, sagt er. Viel Rente kam so nicht zusammen. Der Eintritt zu seinem Schuppen der Scherben hält ihn über Wasser.
Überhaupt die Scherben. Während Arbeit für ihn immer Arbeit war – nötig, lästig, „irgendwie muss der Schornstein rauchen“ – fand er bei seinen Sammeltouren im Watt auch so was wie Glück. Den Spöttern zum Trotz. „Die ersten Jahre haben mich die Leute ausgelacht“, erzählt er. „Die haben gefragt: Was will der Bahnsen?“ Bahnsen wollte es genauer wissen.
Im flachen Wasser der Priele bei Ebbe hatte er beim Miesmuschelsammeln 1971 seine erste Scherbe gefunden, den Rand einer Tonschale, rotbraun und mit einer gelben Wellenlinie verziert. 1980 hatte er genug Fundstücke zusammen, um sein Museum zu eröffnen. 2017 verlieh ihm Bundespräsident Joachim Gauck für sein Wissen um die Kulturspuren im Watt die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland. Spätestens da lachten die Leute nicht mehr.
Zwischen seinen Scherben: Hellmut Bahnsen.
Um zu verstehen, was genau Bahnsen suchte und fand, muss man sich Nordfriesland vor 700 Jahren einmal aus der Luft vorstellen: Die Küstenlinie verläuft einige Kilometer weiter westlich als heute. Sylt im Norden ist keine Insel, sondern eine sanfte Erhebung auf dem Land, genauso Föhr, Amrum und, noch weiter südlich, Pellworm. Dort, wo heute alle sechs Stunden das Meer kommt oder geht, erstrecken sich damals die Uthlande: eingedeichtes Marschland, viel Acker, dazwischen schmale Wasserstraßen.
Irgendwo in der Mitte des Gebietes lag tatsächlich eine Stadt namens Rungholt, reich, aber nicht riesig, ein nordischer Handelshafen mit höchstens 2.000 Einwohnern, Hamburg hatte damals gut 5.000. Es gibt authentische Dokumente aus der Zeit vor dem Untergang, allerdings nur drei: eine Karte, ein Testament und eine Handelsvereinbarung mit Hamburger Kaufleuten aus dem Jahr 1361. Schon ein Jahr später war von Rungholt und den Uthlanden kaum etwas übrig: Am 16. Januar 1362 brach die Sturmflut über die Deiche. „Grote Mandränke“ nennen sie die Menschen Nordfrieslands, das große Menschenertrinken.
Wo genau Rungholt lag, konnte auch Hellmut Bahnsen nicht klären. Seine Scherben könnten aus dem Umland der Stadt stammen, von kleineren Kirchspielen. Nicht alle Funde lassen sich zuordnen. Denn natürlich suchten und fanden die Menschen auch in den Jahrhunderten vor Bahnsen schon Gegenstände im Watt. Was heil war, wurde wiederverwendet, verschwand vielleicht in späteren Fluten erneut, tauchte wieder auf. Spuren verloren sich. Manch Pellwormer Blumenkübel, vermutet Hellmut Bahnsen, war früher mal eine Pferdetränke und noch früher ein Tuffstein-Sarg. Er sagt: „Beweisen kann ich’s nicht.“
Beweisen kann er’s nicht. Immer dann, wenn ihn sein in Jahrzehnten geschulter Blick für die Grautöne des Watts nicht weiterbringt, dafür, ob hier vor Hunderten Jahren Ackerfurchen verliefen oder Warften standen; immer dann, wenn er sich die Hilfe der studierten Chemikerinnen und Archäologen gerade nicht leisten will, wenn er die 350 Euro für eine Datierung mit der C14-Methode oder das Geld für eine DNA-Analyse an anderer Stelle besser gebrauchen kann; immer dann also, wenn Wissenschaft nicht weiterhilft, macht Hellmut Bahnsen aus Geschichte wieder Legenden.
Manch große Sturmflut veränderte die Gegend über Nacht so stark,
dass danach neue Karten nötig waren.
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Einmal, erzählt er, fand er eine brotgroße Holzschale an einer Stelle, wo zu Rungholts Zeiten Deich war, aber weit und breit kein Haus. Damals, das weiß Bahnsen aus Büchern und Chroniken, vergruben die Menschen beim Deichen stets etwas Lebendiges. Je größer das Opfer, desto stärker der Schutz, so der Glaube. Ein Neugeborenes in der Holzschale? Verbuddelt im Deich? „Beweisen kann ich’s nicht.“
Ein andermal fand er einen Krug, der noch nach verbrannter Milch roch, konserviert im sauerstoffarmen Schlick. Er fand auch die Reste einer Warft an dieser Stelle, und die Umrandungen von Zisternen. Vielleicht, meint er, ist die Milch auf dem Herd verbrannt, man hat sie auf eine Brunnenabdeckung gestellt, „Kind, Huhn, Katze oder Hund guckt hinein, der Pott kippt um und kullert die Warft herunter“, sagt Bahnsen. „Und 600 Jahre später komme ich und hebe den Topf wieder auf!“ Pause. „Beweisen kann ich’s nicht.“
So spinnt er seine Geschichten: sehen, verstehen, verknüpfen, ergänzen. Dabei ist gerade eine seiner schönsten Erklärungen mehr als Fantasie: die über den Reichtum Rungholts – und seinen Untergang. Die Archäologie hat sie ihm bestätigt. Denn egal, wo Rungholt genau lag, egal, ob die Scherben im Schuppen vom Atlantis der Nordsee stammen oder von einem der kleineren Kirchspiele Uthlands – das Geld der Region kam vom Salz und das Salz aus dem Torf.
Bahnsen zeigt kleine Glasphiolen mit grau-weißen Krümeln darin. Er hat die Methode selbst ausprobiert: Torf aus dem Marschgebiet stechen, trocknen, verbrennen, die Torfasche mit Meerwasser durch ein ausgestochenes Stück Rasen filtern, so oft, bis ein Hühnerei in der Lauge schwimmen kann. Das Wasser über dem Feuer verdunsten lassen, das Salz einsammeln, fertig.
Die Prozedur hat nicht die Torfstecher reich gemacht, sondern nur die Kaufleute. Rungholts Schätze sammelten sich bei einigen wenigen. Aber natürlich wollten trotzdem alle mehr, meint Bahnsen. Sie gruben immer tiefer, erhöhten dabei aber ihre Deiche nicht. Sie gruben sich den Boden unter den Füßen weg, so tief, dass die Wogen der Sturmflut von 1362 über ihren Köpfen zusammenschlugen. Die Anmaßung Rungholts bestand nicht darin, ein Schwein ins Bett zu packen, sondern im maßlosen Raubbau an der Natur.
Was jetzt mit dem gesammelten Wissen, den gesammelten Scherben? Manchmal frage er sich das, sagt Hellmut Bahnsen. Der Meeresspiegelanstieg sei offensichtlich, der Klimawandel ein Problem, aber eben nicht mehr für seine Generation. Er hätte gern einfach noch ein paar Gäste, die zuhören.
Gleich dort, wo sein Schuppen steht, und seit 55 Jahren sein Haus, ging er früher zur Schule, sagt er. „Seitdem lerne ich hier halt weiter und bleibe jedes Jahr sitzen.“ Diesen Spruch habe er sich zurechtgelegt, falls mal Schulklassen kommen, vielleicht freut sich ein Kind. Aber in fünfzig Jahren Scherbensammeln waren nur zwei Schulklassen da.