Wenn man hier zwei Mal mit jemandem gesehen wird, ist man schon zusammen

Kein Club, keine Drogerie, nicht mal eine Dönerbude: Pellworm wirkt nicht wie ein Paradies für junge Menschen. Viele gehen weg. Einige aber bleiben. Wieso?

Auf Pellworm gibt es ein Problem, das immer wieder Sorgen bereitet: Die jungen Leute gehen. Wir sprechen mit fünf von ihnen: Katharina, Erik, Sophie, Jesse und Jan. Sie sind zwischen 22 und 24 Jahre alt, wohnen alle auf der Insel, manche studieren auf dem Festland, andere haben bereits ihren Abschluss. Sie sind in Husum zur Welt gekommen, weil es auf Pellworm kein Krankenhaus gibt – bis auf Jesse. Er wurde auf Pellworm zu Hause im Badezimmer geboren. „Ich war ’ne Sturzgeburt, kein Scheiß!“

Viele in ihrem Alter sind schon aufs Festland gezogen. Die fünf aber wollen bleiben. Um ihre Zukunft als junge Menschen auf der Insel mitzugestalten, haben sie die Gruppe Pellworm 2030 gegründet. Sie arbeiten an Konzepten für eine bessere ärztliche Versorgung und für stärkere Maßnahmen gegen den Klimawandel.

Ein Gespräch über die Zukunft, die es vielleicht gar nicht geben wird. 

Eigentlich sollte das Interview bei gutem Wetter auf freiem Feld stattfinden. Leider kam Regen in die Quere – und eine Horde liebesbedürftige Jungbullen. 

Woran erkennt man denn Pellwormer:innen? 

Jan: Meistens kennt man sich ja eh schon.
Katharina: Man ist ja auch von klein auf zusammen im Kindergarten.
Jesse: Wir grüßen uns untereinander. 

Und die Tourist:innen grüßt ihr nicht? 

Jan: Die grüßen ja auch manchmal nicht.
Erik: Nee, nee, wir grüßen nur die Menschen, die wir kennen.
Katharina: Manchmal ist es schwierig, Zugezogene von Gästen zu unterscheiden. Dann grüßt man sie vielleicht erst nicht. Oder erst, wenn sie am Auto ein NF-Kennzeichen haben, das steht für Nordfriesland. Das ist was Ausschlaggebendes!

Seid ihr anders, wenn ihr auf dem Festland seid? 

Jan: Ein komplett anderer Mensch. Auf der Insel achtet man schon sehr darauf, wie man sich anderen zeigt. Man überlegt mehr, weil hier auch mehr geredet wird.
Erik: Du könntest in Unterhose durch Hamburg laufen und es wäre egal. Hier muss man halt mehr darüber nachdenken, wie man rüberkommt, weil man sonst schnell abgestempelt wird. 

Ist das nicht belastend? 

Jan: Du darfst dich schon so zeigen, wie du bist. Und irgendwann akzeptieren die anderen das auch. Aber wir hatten in der Schule auch Lehrer, die sind hier zugezogen, haben zwei, drei Jahre unterrichtet und sind dann wieder abgehauen, weil das für die nichts war.

Ich würde gern einfach mal auf einen Kaffee irgendwo hingehen.

Was macht ihr auf dem Festland, was ihr hier nicht macht? 

Jan: Döner essen.
Erik: Meckes.
Jan: Ist auch irgendwie cool, dass wir das hier nicht haben.
Katharina: Generell die vielen Möglichkeiten der Stadt wahrnehmen. Bei dm gibt es eine Auswahl an zig Duschgels. Und hier hast du halt bei Edeka …
Erik: Seife. (lacht)
Sophie: Ich würde gern einfach mal auf einen Kaffee irgendwo hingehen. Das ist auf Pellworm schon ein bisschen schwierig, weil es nicht so viele Cafés gibt, und die sind im Sommer auch sehr voll.
Jesse: Mal andere Leute kennenlernen auf Partys.
Erik: Die haben auf dem Festland ja eine andere Größenordnung. 

Ist es hier schwierig, Leute zu daten? 

Erik: Forever alone.
Jan: Ist nicht ganz leicht. Natürlich kriegt man hier vieles sehr schnell mit.
Katharina: Wenn man hier zwei Mal mit jemandem gesehen wird, ist man schon zusammen, auch wenn man es selbst noch nicht weiß.

Wo bandeln denn Pellwormer:innen an? 

Jesse: Hafenfest.
Sophie: Scheunenfete! Da kommen viele vom Festland.
Katharina: Aber die ist nur alle zwei Jahre. Also alle zwei Jahre Dating-Börse. 

Habt ihr euch schon mal Tinder heruntergeladen? 

Jesse: Aus Spaß mal. Da habe ich aber noch in Hamburg gewohnt. Auf Pellworm habe ich niemanden gefunden.
Sophie: Auch keine Gäste?
Jesse: Nee. Ich glaub, die nächste war auf Sylt.

Von links nach rechts:
Sophie, Jesse, Erik, Katharina & Jan

Wann habt ihr zuletzt eine längere Zeit auf dem Festland verbracht?

Jesse: Bis ich acht war, hab’ ich auf Pellworm gewohnt, danach war ich fast 15 Jahre lang in Hamburg. Die Eltern geschieden und all so’n Mist. Ich habe dort Tischler gelernt. Aber ich war noch nie ein Stadtmensch. Zu viele Leute, zu viele Idioten. Ich brauche meinen Freiraum. Ich brauch’ Land. Seit anderthalb Jahren bin ich wieder fest hier. Die Freundschaften, die ich damals mit acht hatte, die sind immer noch da.
Jan: Zur Prüfungsphase war ich auf dem Festland. Ich genieße es, wenn ich auch mal runter von der Insel bin. Und dann wieder zurückkomme.

Was genießt du, wenn du weg bist?

Jan: Die Auszeit von zu Hause. Dass man dann auch einen anderen Freundeskreis hat.
Sophie: Hallo?!
Jan: Also, äh, das soll jetzt nicht doof rüberkommen. Aber ich finde, manchmal ist das hier ein bisschen festgefahren. Oder ich bin noch nicht so bereit dafür, dass ich jetzt für immer hier bin.
Erik: Wenn man auf dem Festland ist, kann man seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, weil ein Meer zwischen dir und den Aufgaben liegt. Das ist ein besonderes Gefühl. 

Was für Verpflichtungen sind das?

Erik: Ich arbeite mit meinem Vater auf unserem Milchviehbetrieb. Mein Opa hat den Hof 1961 gekauft, mein Vater hat ihn in den 1990ern übernommen, und später werde ich ihn übernehmen. Die Landwirtschaft, die Tiere, da ist ja jeden Tag was zu tun. Wenn man mal weg ist, hat man auch wirklich eine Auszeit davon.
Jan: Wir haben einen Biolandbetrieb, den ich nach dem Studium übernehmen will. Hauptsächlich Rindermast, ein bisschen Schafhaltung, Ackerbau. Mein Vater sagt auch immer, er kann wirklich erst entspannen, wenn er von der Insel runter ist. Einen Tag frei auf der Insel zu machen, das bringt nichts. Die Touristen kommen auf die Insel, um abzuschalten – wir müssen runter, damit das geht. Natürlich geht man nicht, wenn die Luft brennt. Wenn man einen freien Tag macht und die Eltern draußen ackern, das kommt nicht so gut fürs Gewissen.

War das vorher geplant, dass ihr die Höfe übernehmt? 

Erik: Wenn ich es nicht machen würde, würde es keiner machen. Dann würde mein Vater nicht mehr investieren, die Kühe so langsam abschaffen und irgendwann in Rente gehen. Der Hof würde wahrscheinlich verpachtet werden. Ich bin halt so aufgewachsen, mit Treckern, großen Maschinen. Meine Freunde hatten die gleichen Interessen. Bestimmt wollte ich als kleiner Junge mal Rennfahrer oder Astronaut werden. Aber das hat sich schnell erledigt.
Jan: Für mich war es wichtig, dass ich vorher einmal im Ausland war. Wirklich mal raus. Ich war fünf Monate in Kanada und noch einen Monat in Australien.

Wir fangen nicht an, Leute wie Verstoßene zu behandeln, wenn sie von der Insel wegziehen.

Ist es denn leicht, hier jung zu sein?

Jan: Wenn man seinen Freundeskreis hat, dann geht das. Den braucht man schon.
Sophie: Du kannst halt nicht die Ansprüche haben, jeden Tag in einen Techno-Club zu gehen oder in irgendwelche fancy Bars. Das hast du hier halt nicht. Aber es gibt ja andere Möglichkeiten. Ich mag’s total gerne, mich im Sommer einfach mit paar Leuten am Deich zu treffen und baden zu gehen.
Jesse: Gläschen Wein trinken.
Erik: Oder auch mit dem Fahrrad abends durch die Gegend fahren, da sitzen dann Leute im Garten und sagen: „Ach komm, setz dich dazu!“
Jesse: Als Kind gehst du hier draußen spielen und kommst nach Hause, wenn’s dunkel wird. Als ich dann nach Hamburg gezogen sind, gab es auf einmal Uhrzeiten. Das kannte ich gar nicht.
Jan: Man macht sich auch über andere Sachen wie Kriminalität nicht so viele Gedanken. Das gibt’s hier quasi nicht.
Jan: Es kommt ganz auf die Ansprüche an. Vielen ist das echt zu schnarchig hier. Wir merken auch, dass da einige sind, die bald wegziehen. Die haben den Anschluss nicht mehr an die Cliquen und sind häufig mit Leuten auf dem Festland unterwegs.

Wer von euch könnte sich denn vorstellen, auf dem Festland zu wohnen?

Jesse: Da muss ich schon einen sehr triftigen Grund haben.
Jan: ’ne Frau, 5.000 Hektar, dann sage ich Tschüs!
Katharina: Ich würde es nicht ausschließen.
Jesse: Wegen uns, wa?
Katharina: Nein, überhaupt nicht! Irgendwie bin ich grad in so einer Phase, in der ich nicht weiß, wo es hingeht. 

Warum denkst du darüber nach? 

Katharina: Eigentlich nur wegen der beruflichen Zukunft. Ich hab in Konstanz vier Jahre Architektur studiert. Seit März bin ich wieder hier. Bauen im Bestand, Sanierung, solche Sachen finde ich interessant. Aber so viel ist hier jetzt auch nicht mehr möglich, außer Sanierung. 

Ist das ein schwieriges Thema hier? Wenn man sagt, dass man weggehen will? 

Sophie: Wir fangen nicht an, Leute wie Verstoßene zu behandeln, wenn sie von der Insel wegziehen.
Katharina: Zu Hause ist das jetzt nicht so das Problem. Mein Papa hat ein Planungsbüro hier. Und wenn ich es nicht übernehme, ist es auch in Ordnung. Da werde ich unterstützt, egal was ich mache. Die meisten gehen ja weg, bestimmt 70 bis 80 Prozent meines Jahrgangs. Die Chancen auf dem Festland sind einfach größer. Beruflich und privat.

Viel kann man als junger Mensch auf Pellworm nicht machen. Manchmal reicht aber ein Bier am Deich.

Empfindet ihr es deshalb als eure Verantwortung, auf der Insel zu bleiben? Weil so viele gehen?

Sophie: Nö. Wenn ich hier nicht bleiben wollen würde, dann müsste ich das auch nicht. Unser Betrieb ist seit ungefähr 1703 im Familienbesitz. Das ist einer der ältesten Höfe auf Pellworm. Natürlich wäre es schade, wenn es die Familie nicht mehr direkt gäbe auf Pellworm. Aber ich hab ja noch drei Brüder. 

Wie wichtig wäre es euch, dass die, die gehen, bleiben?

Katharina: Es müssten ja gar nicht die 80 Prozent sein. Wenn sie das Inselleben satt haben, sollen sie auch gehen dürfen. Aber andere können und sollen gerne kommen. Und da sind halt so Hemmschwellen wie: Wohnungen gibt’s kaum. Und die Häuser, die zum Verkauf sehen, sind teuer.
Erik: Da wird so ein altes Schrotthaus auf einer Warft für eine Million Euro verkauft. Aber das Haus ist ja Schrott! Das heißt, man muss noch jede Menge investieren. Und das kann man ja nicht zahlen, wenn man noch nicht viel hat.
Jan: Junge Mittelstandsfamilien, die werden jetzt erst mal nicht mehr kommen, weil sie sich den Standort nicht leisten können. Es sind eher reiche Rentner mit Ferienhäusern. Ist auch okay. Aber zum sozialen Miteinander hier können die halt auch nicht mehr so viel beitragen wie eine junge Familie.

Pellworm ist nicht nur von Abwanderung betroffen, sondern auch vom Klimawandel. Habt ihr den Eindruck, dass die Insel keine Zukunft hat?

Erik: Ne. Pellworm hat ’ne Zukunft.
Jan: Wir hoffen zumindest, dass Pellworm nicht aufgegeben wird.
Erik: Fluten hatten wir natürlich schon, 2017 etwa. Da war viel Regen, und irgendwann kam unser Schöpfwerk, das die Entwässerung der Insel regelt, nicht mehr hinterher, die Gräben waren voll, dann liefen die Flächen zu. Es war kein Land mehr, sondern ein See.
Jesse: Einige haben eine Zufahrt zum Haus, die durch tiefer gelegenes Land hoch zum Haus geht. Die konnten nicht mehr heim, weil die Zufahrt komplett unter Wasser war.
Katharina: Als Insel schaffen wir es nicht allein, nicht unterzugehen. So richtig vorsorgen kann man auch nicht, weil man ja nicht weiß, wann der Tag X kommt. Und was dann passiert. 

von

Marvin Ku
Hannes Schrader