Das große Hasensterben
Immer weniger Hasen hoppeln über deutsche Felder. Warum nur? Auf der Nordseeinsel Pellworm forscht man daran intensiver als anderswo. Der Grund: ein Massensterben.
Immer weniger Hasen hoppeln über deutsche Felder. Warum nur? Auf der Nordseeinsel Pellworm forscht man daran intensiver als anderswo. Der Grund: ein Massensterben.
Foto: Maria Rohweder
Feldhasen murren. Viele Menschen glauben, der Hase mache keine Laute, aber aus nächster Nähe ist ein katzenhaftes Murren zu hören. Und wie er hier so liegt, auf der Weide, rund 20 Meter entfernt in der Abendsonne, Lepus europaeus, Gattung Echte Hasen, mit seinem erdbraunen Fell in eine Mulde, seine Sasse, gedrückt, perfekt getarnt im Grasland, müsste er eigentlich entspannt vor sich hinmurren.
Eigentlich sollte der Feldhase auf Pellworm ein Leben ohne Sorgen führen. Es gibt keine natürlichen Fressfeinde, keine Marder, Wiesel, vor allem keine Füchse, die ihn jagen. Und es gibt nur wenige Autos, die ihn platt fahren können.
Doch sogar im Pellwormer Hasenparadies zeigt sich inzwischen ein Trend, der Deutschland schon vor Jahrzehnten erfasst hat: Es gibt immer weniger Feldhasen.
In den 1960er- und 1970er-Jahren lebten mehr als zehn Millionen Hasen auf deutscher Flur, heute sind es nur noch zwei bis drei Millionen Tiere. Auf der Roten Liste der bedrohten Arten gilt der Feldhase mittlerweile als „gefährdet“. Tendenz: Bestand weiter sinkend.
Auf Pellworm hat sich die Population innerhalb der letzten 15 Jahre halbiert. Etwa 1.000 Hasen leben noch hier.
Als Erste merkten die Pellwormer Jäger, dass etwas mit dem Feldhasen nicht stimmte. 2006 begann das, was Heinrich Ewers, der Vorsitzende des Jagdvereins, das „große Hasensterben“ nennt.
800 bis 1.000 leblose Tiere fanden die Jäger innerhalb weniger Wochen. Die Hasen hatten sich an Ackerränder und in Gräbern zurückgezogen, vielleicht weil sie spürten, dass sie sterben würden.
In den nächsten Jahren erlegten die Jäger immer weniger Tiere. In den besten Jagdsaisons hatten sie bis zu 600 Stück geschossen, Jäger aus ganz Europa waren ins Pellwormer Hasenrevier gereist. Bei den letzten Treibjagden sammelten sie nur noch um die 30 Tiere ein.
„Wir hätten den Hasen ausrotten können, wenn wir weitergejagt hätten“, sagt Ewers. Vor zehn Jahren stellten er und seine Kollegen die Jagd ein. Der 76-Jährige sitzt vor seinem roten Backsteinhaus, auf einer geblümten Tischdecke breitet er Bilder von früheren Hasenjagden aus, ein Foto zeigt die Gründerväter des Jagdvereins von 1916. Die Pellwormer Treibjagd, eine fast hundertjährige Institution auf der Insel, gibt es bis auf Weiteres nicht mehr.
Ewers zeigt auf die Ackerfläche hinter seinem Haus. Die Felder sind der natürliche Lebensraum des Hasen. Und immer häufiger sein Friedhof.
Heinrich Ewers läuft über den aufgesprungenen Feldboden. Der Landwirt, der das Grasfeld hier bestellt, hat erst vor einigen Tagen gemäht. Zurück bleiben Stoppeln und Leichenreste.
Junghasen, in den ersten Tagen nicht größer als ein Ei, werden vom Sog der Erntemaschinen erfasst, sagt Ewers. Vier bis fünf Schnitte mache der Landwirt im Jahr, um die Silos mit Futtergras für die Kühe zu füllen. „Die Maschinen reißen alles vom Boden – und dann ist der Hase Hackfleisch.“
Nach den Erntegängen beobachtet Ewers die Möwen, die über dem Feld kreisen, um die Reste der Hasen und anderer Tiere aufzupicken. Den „mechanischen Tod“ nennen die Jäger das Hasenschreddern der Maschinen.
Ewers stapft weiter. Auf dem nächsten Feld schreckt ein Hase aus seiner Sasse hoch. Als er wegrennt, schwingen seine Hinterläufe, die langen Beine, auf und nieder, der braun-weiße Schwanz hüpft mit. Bis zu 80 Stundenkilometer wird der Hase schnell.
„Um den zu erwischen, müssen Sie mit der Schrotflinte ein paar Meter voraus schießen“, sagt Ewers. Er denkt wieder an die Jagd. An die schwindende Population in seinem Revier. „Mit dem Hasen ist das nix mehr, das wird vielleicht nie wieder so werden wie früher.“
Als das Hasensterben begann, rief Heinrich Ewers den Wildbiologen Daniel Hoffmann an. Hoffmann, 46 Jahre alt, war 2000 das erste Mal auf der Insel, um Hasen für seine Dissertation zu zählen, sie liefen kreuz und quer über die Felder.
Hoffmann will herausfinden, warum so viele Hasen verenden. Wenn er über den Pellwormer Feldhasen und das Massensterben 2006 spricht, klingt es so, als spreche er über einen Kriminalfall. „Es muss irgendwas Gravierendes passiert sein – irgendetwas, was relativ schnell um sich gegriffen hat, sodass die Tiere innerhalb weniger Tage gestorben sind.“
Pellworm ist wie ein riesiges Freiluftlabor. Unter den Insel-Bedingungen können Biolog:innen viele äußere Einflüsse ausschließen und analysieren, was dem Hasen zu schaffen macht.
Heinrich Ewers ist auf Pellworm aufgewachsen und arbeitete
auf der Insel als Küster. Seit 1995 ist er Vorsitzender des Jagdvereins.
Mit einem „Klotstock“, einem elastischen Holzstab, schwingen sich die Treiber
bei der Hasenjagd über die Gräber zwischen den Feldern.
Mit Geldern des Naturschutzvereins „Game Conservancy Deutschland“ untersucht Hoffmann zusammen mit der Veterinärmedizinischen Uni Wien seit 2010 das Hasensterben.
Seitdem kommen jedes Jahr vier Forscher:innen aus Wien nach Pellworm und sezieren in der Garage von Heinrich Ewers frisch geschossene Hasen. Ewers nennt seine Gäste nur „die Wiener“, die Wiener nennen ihn „Heie“, abends spielen sie Uno in seiner Stube. Die Wiener schneiden den Hasen Herz, Nieren, Milz raus, wiegen ihr Augenlinsengewicht, um ihr Alter zu bestimmen, zählen ihre Gebärmutternarben, um auf die Anzahl der Würfe zu schließen.
Mehr als 4.000 Proben von 400 Hasen sind mittlerweile zusammengekommen. Ein einzigartiger Datensatz in Europa, sagt Hoffmann.
Und eine Detektivarbeit.
Als Erstes schlossen sie die gängigen Hasenseuchen aus.
Sie untersuchten die Gülle aus der Biogasanlage – könnten Bakterien drin sein.
Sie sammelten Gänsekottupfer auf den Feldern – könnten ebenfalls Bakterien drin sein.
Sie zählten Hauskatzen und Wanderratten – könnten Junghasen fressen.
Doch die plausibelste Antwort fanden sie im Darm.
Dort entdeckten die Forscher:innen ungewöhnlich viele E. coli-Bakterien. Allerweltskeime, die in jedem Hasendarm und auch beim Menschen zu finden sind. Doch in der Darmschleimhaut waren sie so dominant, dass sie die Därme zuwucherten. Einige Tiere starben an einer Darmentzündung, bei anderen Tieren schwächten die Bakterien das Immunsystem derart, dass sie schon an leichten Krankheiten wie Schnupfen verendeten.
Wie beim Menschen spiegelt die Darmflora beim Hasen die Ernährung wider. Die Wissenschaftler:innen vermuten, dass Monokulturen in der Landwirtschaft und schnell wachsendes Weidegras, sogenannte Hochleistungsgräser, der Pellwormer Hasenpopulation schaden. Die einseitige Ernährung schwächt ihre Darmschleimhaut, behindert infolge den Nährstoffaustausch und lässt Bakterien leichter in die Hasenblutbahn dringen.
Nach der Jagd gab es Hasenbraten.
Am liebsten isst Ewers das fettarme Fleisch mit Rotkohl
und Kartoffeln. Er nahm schon als Kind an Hasenjagden teil.
Auf Pellworm wird seit 2006 Mais angebaut, damals installierten Pellwormer Landwirte eine Biogasanlage. Die dort produzierte Maisgülle verteilten sie auf ihren Feldern. Das Sterben der Hasen begann zur gleichen Zeit. Eine Korrelation. Eine Kausalität kann Hoffmann nicht beweisen, weil es aus der Zeit keine Gülleproben gibt. Mittlerweile wächst der Mais auf Pellworm auf einer Fläche von 400 Hektar, etwa einem Zehntel der Inselfläche. Hier finden die Hasen nichts zu essen.
60 bis 70 verschiedene Gräser braucht der Hase, um sich ausgewogen zu ernähren. Nur dann können die Häsinnen eine der fettreichsten Milcharten der Säugetierwelt produzieren. Ihre Jungen säugen sie nur einmal täglich.
Die modernen Gräser, die als Futter für die Milchkühe angebaut werden, enthalten zu wenige Nährstoffe. Das Düngen und die häufigen Schnitte verhindern zudem, dass Kräuter und Wildgräser zwischen ihnen wachsen können.
Der Feldhase sei eine Zeigerart, ein Indikator für den Zustand des Ökosystems um ihn herum, sagt Wildbiologe Daniel Hoffmann.
„Wenn der Hase aussterben würde, weil wir unsere Landschaften durch unsere intensive Nutzung so stark verändern, hätten wir als Menschheit insgesamt versagt.“
Um den Hasen zu schützen, wünschen sich Ewers und Hoffmann Blühstreifen und sogenannte Insektenbänke, um die Pflanzenvielfalt zu erhöhen. Und das am besten mitten auf dem Feld, nicht an Straßen, die die Tiere erst überqueren müssen.
Hoffman sagt, fünf bis sieben Prozent der Pellwormer Ackerfläche müssten zur Schutzzone werden, um dem Hasen und anderen Tierarten zu helfen. Mit einer Modellskizze wollen sie demnächst beim schleswig-holsteinischen Umweltministerium um Mittel werben.
Was sie vor allem brauchen, ist aber die Unterstützung der Pellwormer Landwirte. Das sei ein Problem, sagt Jäger Ewers. „Wir dürfen nicht hoffen, dass sie uns groß helfen, das wäre nur mit Geld möglich.“
Nico Nommsen blickt einem flüchtenden Hasen hinterher.
Hasen sind nicht nur exzellente Sprinter, sie können auch bis zu
zwei Meter hoch und drei Meter weit springen.
Landwirt Nico Nommsen fährt mit seinem braunen Caddy mitten über den Acker. Nommsen, der Vorsitzende des Bauernverbands Pellworm, will auf seinen Feldern zeigen, was er alles für den Naturschutz tut. Plötzlich bremst er. Nommsen kurbelt die Scheibe runter, schaut nach unten ins Gras. „Da liegt doch einer.“ Der Hase läuft nicht weg, er hoppelt nur ein Stück zur Seite, und setzt sich wenige Meter von der Kühlerhaube entfernt wieder hin. „Der sieht gar nicht gut aus“, sagt Nommsen.
Nommsen, ist 51 Jahre alt. Er hat 42 Milchkühe, 77 Hektar Land und führt den Hof in vierter Generation.
„Gegen den Hasen kann man ja eigentlich gar nichts haben, der frisst nichts weg. Ich stehe dem Hasen positiv gegenüber.“
Wenn Nommsen Gras aussät, streut er ab und zu eine Kräutermischung ein, die dem Hasen helfen soll. „Ich kann nicht verstehen, warum er auf Pellworm nicht satt wird“, sagt Nommsen, ein konventioneller Landwirt. Ein Drittel der Insel-Ackerflächen würden biologisch bewirtschaftet. „Da müsste es doch genügend Kräuter und Löwenzahn geben, weil die nichts rausspritzen.“
Der Landwirt fährt die Felder ab, zeigt Wasserlöcher, die er für Vögel angelegt hat, und erläutert, was auf seinen Äckern wächst.
60 Hektar Grünland: Deutsches Weidelgras, ein Hochleistungsgras, verarbeitet zu Silofutter. „Die Kuh will Silage fressen.“
18 Hektar Naturschutzfläche: unbearbeitete Brachfläche, integriert im Grünland. „Auf diesen Flächen ist keine Neuansaat mehr möglich, weil Gänse dort nisten und alles wegfressen. So bekomme ich wenigstens noch Geld dafür.“
10 Hektar Mais: ebenfalls für die Kühe. „Die größte Herausforderung ist es, die Tiere satt zu bekommen. Sonst bekommst du keine Milch raus.“
„Mich stört er nicht“, sagt Nommsen.
Im Gegensatz zum Festland können die Pellwormer Bauern auf ihrer Insel nicht beliebig Land dazukaufen. Jeder Meter, den sie nicht bewirtschaften können, tue ihnen weh, sagt Nommsen. Auch weil die Fähre die Transportkosten für zusätzliches Futter und Stroh so teuer mache.
Ist dann überhaupt noch Platz für die Blühstreifen, die Hoffmann und Ewers fordern? Nommsen hat zwei angelegt: Einer liegt hinter den sechs Ferienwohnungen auf seinem Hof, einer am Feldrand an der Straße – „aber der ist nix geworden“.
Würde es dem Hasen aus seiner Sicht denn helfen? „Ich weiß nicht, ob der was damit anfangen kann, das kann ich jetzt nicht erkennen. In meinen Augen nützt das eher Bienen und Vögeln.“
Doch um die Lage des Hasen zu verbessern, müssten beide Parteien, die Landwirte und die Jäger, miteinander reden. Das geschieht selten. Das Verhältnis zum Jagdvereinschef Heinrich Ewers beschreibt Nommsen so: „Wir sagen uns guten Tag und guten Weg.“ Ewers sagt, im Verhältnis zwischen Landwirten und Naturschützern gebe es „gewisse Schwierigkeiten“: „Das klemmt nun mal.“
Der Hase steht zwischen ihnen, tut keinem weh, doch sein Bestand nimmt ab.
„Mich stört er nicht“, sagt Nommsen. „Es ergibt sich kein Vor- und kein Nachteil.“ Man könnte auch sagen: Er ist egal.