Untergang des Watts
Das Wattenmeer ist ein einzigartiges Ökosystem, das vielen Tierarten das Überleben sichert. Doch es könnte bald verschwunden sein – und mit ihm die schnellste Schnecke der Welt.
Das Wattenmeer ist ein einzigartiges Ökosystem, das vielen Tierarten das Überleben sichert. Doch es könnte bald verschwunden sein – und mit ihm die schnellste Schnecke der Welt.
Foto: Maria Rohweder
Illustrationen: Ricarda Richter
Wer vom Pellwormer Deich hinaus auf das Watt blickt, sieht nicht, welche Gefahr droht. Ein Grad wärmeres Wasser? Spürt man nicht. Ein paar Zentimeter höher auflaufende Flut? Scheint zwischen den Steinen verschwindend gering. Und doch: Schätzungen des Landes Schleswig-Holstein sagen voraus, dass zum Ende des Jahrhunderts bis zu 75 Prozent der Wattflächen im Meer versinken könnten. Und mit ihm seine Bewohner.
Das Leben im Wattenmeer wird von den Gezeiten bestimmt. Zweimal am Tag verschwindet mit der Ebbe das Wasser und legt den Schlick frei. Die Flut bringt das Meer nach etwa sechs Stunden zurück. Als Nationalpark und Unesco-Weltnaturerbe ist es vor menschlichen Eingriffen geschützt. Doch die Siegel können nicht verhindern, dass die Erwärmung der Erde auch das Watt gefährdet.
Weltweit steigt die Temperatur der Ozeane, seit 1970 um knapp 0,8 Grad Celsius. Doch die Nordsee erwärmt sich beinahe doppelt so schnell. Das liegt unter anderem daran, dass sie recht flach ist – und das Wattenmeer ist noch flacher, durchschnittlich ist das Wasser gerade einmal 30 Meter tief. Zum Vergleich: Der Atlantik, an dessen Rand die Nordsee liegt, erreicht im Mittel eine Tiefe von rund 3.300 Metern. Flache Gewässer heizen schneller auf. Das hat Folgen, zum Beispiel für das Seegras.
Zostera marina: das gewöhnliche Seegras.
Ab und an findet man im Watt Büschel grüner Halme, die sich an den sandigen Boden klammern und in der Strömung hin und her wiegen. Diese Seegraswiesen erfüllen mehrere Funktionen: Sie stabilisieren mit ihren Wurzeln den Grund und verhindern, dass die Wellen den Wattboden abtragen. Zugleich wohnen verschiedene Wattbewohner im Seegras, andere fressen es. Doch Seegras wächst nur bei Temperaturen zwischen 10 und 20 Grad Celsius. Wird es der Pflanze zu heiß, sterben ihre Blätter ab. Das trifft eine Wattbewohnerin besonders hart: die Wattschnecke.
Hydrobia ulvae: die Wattschnecke.
Wer durch das Watt vor Pellworm watet, entdeckt sie beinahe überall: als kleine schwarze Pünktchen im Wattboden. Auf einem Quadratmeter können bis zu 50.000 dieser Schnecken leben. Ihr Haus ist kegelförmig und kaum größer als ein Stecknadelkopf.
Die Wattschnecke ist Rekordhalterin im Tierreich: Sie kann sich bei Flut mit der Hilfe von Schleim an der Wasseroberfläche anheften und sich so kilometerweit davontragen lassen. Sie legt dabei so große Entfernungen in kurzer Zeit zurück, dass sie – mit einer Höchstgeschwindigkeit von sieben Stundenkilometern – als schnellste Schnecke der Welt gilt.
Für das Watt ist die Schnecke sehr wichtig, denn sie wühlt und frisst sich durch den Schlick. So hilft sie bei der Entstehung von neuem Wattboden. Ihr Futter findet sie im Sand, vor allem in den Seegraswiesen: winzige Kieselalgen und Bakterien, die einen Film auf der Oberfläche der Gräser bilden. Die Wattschnecke hat eine Raspelzunge, mit der sie die Oberfläche abgrast. Davon profitiert wiederum das Seegras: Fotosynthese betreibt sich leichter, wenn keine Algenschicht die Blätter vom Licht abschirmt. Seegras und Wattschnecken leben in einer Symbiose – ohne das Gras wird es für die Schnecke schwierig und andersrum.
Cerastoderma edule: die Herzmuschel.
Eine ebenfalls weit verbreitete Bewohnerin des Watts ist die Herzmuschel. Normalerweise versteckt sie sich etwa fünf Zentimeter unter der Oberfläche. Wird sie von den Wellen freigespült, hilft sie sich mit ihrem Grabefuß und verschwindet innerhalb weniger Minuten wieder im schützenden Boden. Die Herzmuschel ernährt sich von organischen Stoffen im Wasser. Sie besitzt einen sogenannten Sipho, eine Art Rüssel, den sie aus dem Schlamm herausstrecken kann. Damit saugt sie Wasser ein, nimmt die Nährstoffe auf und spuckt das gereinigte Wasser wie eine Wasserpistole wieder aus. Auf diese Art filtert die Herzmuschel bis zu 2,5 Liter Wasser pro Stunde.
Sie leidet unter einer anderen Auswirkung der Klimakrise besonders: Die Meere werden saurer. Wenn sich Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre im Meerwasser löst, laufen verschiedene chemische Reaktionen ab. Zum einen sinkt der pH-Wert – in den vergangenen 200 Jahren um beinahe 30 Prozent. Zum anderen wird es für Organismen in den Ozeanen immer schwieriger, Kalk zu bilden. Doch die Muschel braucht Kalk für ihre Schale. In der Folge werden die Muschelschalen dünner, die Tiere sind schlechter geschützt.
Mytilus edulis: die Miesmuschel.
Auch die Miesmuschel muss Kalk bilden. Sie hat aber noch ein anderes Problem. Miesmuscheln heften sich mit speziellen Fäden aneinander und bilden sogenannte Muschelbänke, die sie bei starker Strömung an Ort und Stelle halten. Doch die schwarz-bläulich schimmernden Schalen findet man im Watt immer seltener – um 90 Prozent sind die Bestände der Miesmuschelbänke in der Nordsee in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen.
Das hat mehrere Gründe, doch einer ist wieder die Klimaerwärmung. Denn eigentlich sind die Winter im Watt kalt. Wenn die Miesmuscheln im Frühjahr ihre Eier legen, sind die Fressfeinde der Larven erfroren oder in tiefere Ebenen des Wattbodens gewandert. So hat der Muschelnachwuchs optimale Überlebenschancen. Erst wenn die Miesmuscheln ihre charakteristische Schale gebildet haben und sich das Wasser wieder erwärmt, kehren die Fische, Krabben und andere Feinde zurück. Doch mit steigenden Temperaturen verschiebt sich das Gleichgewicht. Die Feinde bleiben, die Larven werden gefressen – und die Population sinkt.
Crassostrea pacifica: die Pazifische Auster.
Bei anderen Arten hingegen steigt sie, neue Organismen werden im Wattenmeer heimisch. Zum Beispiel könnte die Pazifische Auster zum Problem werden, wenn sie der Miesmuschel den Lebensraum streitig macht. Sie wurde in den 1970er-Jahren vor Sylt als Delikatesse angesiedelt, nachdem die Europäische Auster ein halbes Jahrhundert zuvor ausgestorben war. Eine unkontrollierte Ausbreitung, so dachte man, sei aufgrund des kalten Wassers nicht zu erwarten. Doch die Larven überlebten und gelangten aus den Zuchtkulturen ins offene Meer. Immer mehr Austern leben jetzt im Wattenmeer. Und im Gegensatz zu Miesmuscheln, deren Schalen von Krabben und Vögeln geknackt werden können, haben sie dort keine natürlichen Feinde.
Clupeidae und Sterninae: der Hering und die Seeschwalbe.
Auch verschiedene Fische sind auf das Wattenmeer angewiesen, etwa der Hering. Ihm dient es als Kinderstube. Eigentlich lebt er in großen Schwärmen im Nordatlantik, doch seine Larven treiben mit der Strömung in die Deutsche Bucht, wo sie geschützt im flachen Wasser aufwachsen. Ohne den geschützten Raum des Watts könnte der Hering nicht überleben. Darauf, dass es Jungheringe gibt, sind wiederum verschiedene Vogelarten angewiesen. Eine von ihnen ist die Seeschwalbe. Sie saust im Wattenmeer über die Wasseroberfläche und stürzt sich blitzschnell hinein, wenn sie einen Hering sieht. Damit füttert sie ihre Küken. Sie brauchen eine gute Grundlage: Seeschwalben sind Zugvogel und fliegen im Winter bis in die Tropen.
Im Wattenmeer ist jede ist mit jedem verbunden. Und nicht nur der Temperaturanstieg und die Versauerung, auch der Anstieg des Meeresspiegels hat einen Einfluss auf dieses fragile Ökosystem. Auch der ist in der Nordsee besonders groß: Ihren Pegelstand beeinflussen nicht nur die schmelzenden Gletscher und Polkappen. Da sich Wasser mit zunehmender Temperatur stärker ausdehnt, steigt auch das Volumen der warmen Nordsee besonders stark. Damit verkürzen sich die Zeiten, in denen die Wattflächen freiliegen. Strömungen nehmen zu und Sedimente, die das Watt sonst mitwachsen lassen, werden weggespült. Im schlimmsten Fall droht damit nicht nur dem Watt der Untergang, sondern irgendwann auch Landflächen, Inseln und Menschen, die die Küste der Nordsee bewohnen.
Das erste Foto von Maria Rohweder, alle weiteren von Laura Binder