Gans gegen Schaf
Die Pellwormer Schafe schützen die Deiche und sichern das Überleben der Insel. Doch nun bedroht ein anderes Tier ihre Existenz: die Gans.
Die Pellwormer Schafe schützen die Deiche und sichern das Überleben der Insel. Doch nun bedroht ein anderes Tier ihre Existenz: die Gans.
Foto: Sabrina Winter
Die Gans macht den Landwirten das Leben zur Hölle“, sagt Nico Nommsen und seufzt. Doch nicht nur die Bauern und Bäuerinnen fühlen sich von der Gans gegängelt. Auch die Schafe Pellworms leiden unter dem Vogel. Und vor allem: die Schäfer:innen, von denen es 15 auf Pellworm gibt. Spricht man mit den Inselbewohner:innen über Gänse, haben sie alle etwas zu sagen. Oft sind es Erzählungen voller Furcht, Frust und Zorn.
Warum die Gans so viele Gefühle auslöst und die Schäfer bedroht, das ist nicht ganz einfach zu erklären. Es hängt mit den Deichen Pellworms zusammen, mit dem knappen Platz auf der Insel, vor allem aber: mit der Klimakrise.
Wer das Problem verstehen will, klettert am besten den Deich hinauf. Dort, acht Meter über Normalnull, knabbern Schafe unermüdlich am Gras. Wenige Hundert Meter weiter sieht man ihre Feinde: Gänse watscheln über die Äcker, picken Körner und Gräser ab und schauen dabei so unschuldig, dass man nichts Böses vermuten würde.
Pellworm gibt es nur, weil es den Deich gibt. Er zieht sich wie ein Ring um die Insel. Ein durchgehender Erdwall, der verhindert, dass die Nordsee das Innere der Insel überspült. Seit Jahrhunderten bauen Menschen Deiche, um sich vor der See zu schützen: Erst waren es Sandhaufen, später ummantelte man sie mit Erde, heute wächst auf fast jedem Deich Gras. Bricht der Deich, läuft Pellworm voll. In wenigen Minuten, heißt es, würde das Wasser von einer Seite der Insel zur anderen strömen. Eine Katastrophe, die sich niemand ausmalen will.
Und die Gänse machen diese Katastrophe ein kleines bisschen wahrscheinlicher.
Wenige Meter vom Deich entfernt sammelt Sönke Meesenburg seine Schafe um sich. „Kopp-sick-sick-sick-sick“, ruft er laut über die Weide. Dann rennt ein Schaf los. Ein zweites folgt. Ein drittes. Dann alle. Andere Schäfer haben einen Hund, Meesenburg hat seine Stimme. Wenn er „Kopp-sick-sick-sick-sick“ ruft, glauben die Schafe, es gibt Futter. „Die lieben ihr Kraftfutter“, sagt der Schäfer. Das Getrappel einer Schafherde ist Teil der Inselidylle. Aber wie lange noch?
Die Lämmer werden gewogen, bevor sie auf dem Festland geschlachtet werden.
Nicht das idyllische Bild ist entscheidend für die Insel, sondern die Funktion der Schafe: Sie sichern das Überleben von Pellworm, indem sie für den Deich Rasenmäher und Walze zugleich sind. Die Tiere knabbern das Gras ab, trampeln mit ihren Hufen den Boden fest und treten die Löcher zu, die Wühlmäuse hinterlassen. Wenn im Herbst und Winter die Sturmfluten kommen, ist das Gras kurz, sodass die Flut weniger Angriffsfläche hat. An kurzen Halmen zieht das Wasser nicht so stark wie an langen. Auch der Mantel aus Erde widersteht der Kraft der Flut besser, wenn er nicht von Wühlmäusen aufgebuddelt ist. Doch die Schäfer:innen können Schafe nur halten, wenn ihr Fleisch genug Geld einbringt.
Genau da drängeln sich die Gänse in eine Beziehung, die seit Jahrzehnten auf der Insel besteht: Jedes Jahr im Oktober holen die Schäfer:innen ihre Schafe vom Deich und bringen sie in das Wintergras, wie man sagt. Die Schafe grasen dann über die Wintermonate auf den Kuhweiden der Milchbäuer:innen. Das ist für die Bäuer:innen gut, weil das Gras im Frühling besser wächst. Und für die Schäfer:innen ist es gut, weil ihre Schafe günstig satt werden. Drei zusätzliche Monate im Stall zu füttern, wäre teuer.
Doch weil die Temperaturen durch die Klimakrise steigen, bleiben die Gänse seit einigen Jahren länger auf Pellworm. Sie besetzen die Felder, noch bevor die Schafe kommen. Mit ihren breiten Füßen latschen sie die Erde platt und verdichten die Böden. Die Felder werden oben zur Pfütze und in den unteren Erdschichten trocken. Das Gras wächst schlechter. Und: Die Gänse fressen den Schafen das Wintergras weg.
Der Schäfer Sönke Meesenburg hat direkt an seinem Hof eine Schafweide.
Sie ist ganz nah am Deich, wo seine anderen Schafe stehen.
Nico Nommsen, Milchbauer und Bauernverbandssprecher, lässt normalerweise Schafe auf seine Felder. Im Oktober kommen die ersten. Doch zu dieser Zeit hat die Gans schon zugeschlagen. Im November sind die Weiden oft leergefressen. „Dann haben die Schäfer auch kein Interesse mehr“, sagt Nommsen. Das Wintergras, das eigentlich drei Monate dauert, verkürzt sich auf einige Wochen.
Es ist eine unglückliche Verkettung: Die Gans stiehlt das Gras. Das Schaf braucht anderes Futter. Die Schafhaltung wird teuer. Denn den Pellwormer Schäfer:innen bringt nur das Lammfleisch Geld. Und Fördergelder der Europäischen Union. Der Wollpreis hingegen ist lächerlich gering. „Davon kann ich nicht einmal den Schafscherer bezahlen“, sagt der Schäfer Sönke Meesenburg. 20 Cent pro Kilogramm Wolle gibt es derzeit.
Das liegt auch daran, dass auf Pellworm nur bestimmte Schafsrassen leben können. Um im rauen, norddeutschen Wetter nicht zu frieren, brauchen die Schafe einen ordentlichen Schutzpelz. „Sie müssen widerstandsfähig sein“, sagt Katharina Mextorf. Die Pellwormerin ist 31 Jahre alt und mit Schafen aufgewachsen. Seit ihr Vater 2007 gestorben ist, kümmert sie sich mit ihrer Mutter um den Hof. „Die Schafe brauchen eine grobe Wolle. Sie muss robust genug sein, um Regen und Kälte standzuhalten. Nur so bleiben die Tiere auf dem Deich gesund.“ Außerdem sollten sie nicht zu wild sein. Kein:e Schäfer:in will ihre Schafe aus dem Meer bergen, weil sie sich so sehr vor Spaziergänger:innen erschreckt haben.
Das perfekte Pellwormer Deichschaf ist also fett, nett und in robuste Wolle eingehüllt. So könnte es die Insel schützen, wäre da nicht die gefräßige Gans auf der Weide. „Die Deichschafhaltung funktioniert nicht ohne Wintergras!“, sagt die Schäferin Katharina Mextorf. In ihrer Stimme liegt Entschlossenheit, vielleicht auch ein wenig Wut.
Eine Lösung für das Gänseproblem wäre, die Schafe auf das Festland zu bringen. Zumindest für ein paar Monate. Fürs Wintergras. Sönke Meesenburg und Katharina Mextorf denken darüber nach. Doch auch das könnte teuer werden: Die Schäfer:innen müssten aufs Festland ziehen, die Herde alle paar Wochen auf ein neues Feld treiben, Zäune setzen. Und vorher: die Schafe in Anhänger scheuchen, die Anhänger auf die Fähre und auf dem Festland weiter fahren. Auch das kostet Zeit und Geld. Doch wenigstens das Gänseproblem wären sie los: Aufs Festland fliegen die Gänse nicht.