Gans, du hast das Korn gestohlen
Jedes Jahr rasten im Winterhalbjahr Zehntausende Nonnengänse auf Pellwormer Feldern und zerstören Ernten. Viele Landwirte würden sie am liebsten abschießen, doch die Gänse stehen unter Naturschutz. Was nun?
Jedes Jahr rasten im Winterhalbjahr Zehntausende Nonnengänse auf Pellwormer Feldern und zerstören Ernten. Viele Landwirte würden sie am liebsten abschießen, doch die Gänse stehen unter Naturschutz. Was nun?
Foto: Maria Rohweder
Wenn die Nonnengänse den Ort bewerten müssten, auf dem sie alljährlich überwintern, würden sie Pellworm sicherlich fünf von fünf Sternen geben: Die Anreise ist kurz, die Unterbringung ideal, die Speisekarte einladend. Denn das Wintergetreide und Gras, das die Landwirt:innen dort seit jeher anbauen, schmecken der Gans am besten.
Auch die Landwirt:innen haben Pellworm viele Jahrzehnte lang Bestnoten gegeben: Die Böden sind ertragreich, die Qualität von Raps, Gerste und Weizen ist hoch. Doch seit die Gänse regelmäßig da sind, häufen sich die Klagen.
Von Oktober bis Mai überwintern jedes Jahr Zehntausende Nonnengänse auf der nordfriesischen Insel, fressen die Felder leer und hinterlassen tonnenweise Kot. Ackerbäuer:innen verlieren mit dem Wintergetreide ihre wichtigste Ernte. Milchwirt:innen verlieren das Gras für ihre Kühe. Der Bauernverband spricht von Verlusten in Millionenhöhe in Schleswig-Holstein.
Pellwormer:innen fragen sich daher: Wessen Wohlergehen zählt mehr – das der Gänse oder das der Landwirt:innen, die seit Jahrhunderten hier wirtschaften? Naturschützer:innen antworten meist, dass sich diese Fragen nicht stellen würden. Man könne nur im Einklang mit den Gesetzen der Natur leben, nicht gegen sie. Und das heißt: Wenn die Gänse kommen, müssen die Bewohner:innen der Insel sich anpassen. Und nicht andersherum. Doch kann das funktionieren?
Landwirt Peter Levsen in einem Feld mit Sommertriticale, einer Kreuzung aus Roggen und Weizen. Noch waren die Gänse nicht hier.
„Levsen, da hast du Pech gehabt.“ Wenn der Landwirt Peter Levsen über die Gänse und seine Äcker auf Pellworm spricht, redet er meist von sich in der dritten Person. Morgens um neun Uhr steht der 65-Jährige in der schon heißen Julisonne am Rande eines Weizenfeldes. Als er ein paar Schritte hineingeht, lässt er die Fingerspitzen durch die vollen Ähren gleiten. „So sahen früher alle unsere Felder aus.“ Früher – der Nordfriese Levsen rollt das „r“ in „früher“ laut und schwungvoll. Doch Levsen hatte das Pech, dass Wildgänse vor gut zwanzig Jahren Pellworm für sich entdeckten: energiereiches Getreide, das saftige Gras der Milchbauern und Süßwasserteiche als Lebensraum. Pellworm, das Gänseparadies.
Erst kamen die Zuggänse aus der russischen Arktis nur im Herbst und Frühjahr auf die Insel, um zu rasten. Doch weil die Bedingungen auf Pellworm so gut sind, die Winter mild und sich Brutgebiete verlagert haben, blieben die schwarz-weiß gefiederten Vögel immer länger. Glück für die Gänse, Pech für Levsen.
Dann kamen auch noch die Graugänse mit ihrem auffallend leuchtenden Schnabel und rosafarbenen Füßen. Sie dürfen von Jägern im Herbst geschossen werden und schmecken laut Levsen fantastisch. Weil auch ihnen Pellworm gut gefällt, bleiben die Graugänse ganzjährig hier und brüten. Wieder Pech für Levsen.
Mehrere Jahrhunderte lang konnte sich Familie Levsen darauf verlassen, dass das Wintergetreide im nächsten Sommer geerntet wird und sie dafür gutes Geld bekommen. Je ein Drittel Raps, Weizen und Gerste bauten die Levsens konventionell an, so wie viele andere Landwirtschaftsbetriebe auf der Insel. Früher. „Jetzt ist es so schlimm geworden, dass ich von 100 Prozent Wintergetreide nur noch zehn Prozent durchkriege. Höchstens.“
Daher bauen Landwirt:innen auf der Insel jetzt auch Sommergetreide an. Es beginnt erst zu wachsen, wenn die Nonnengänse im Mai wieder Richtung Norden geflogen sind, und wird gedroschen, bevor sie im Oktober wiederkommen. Doch weil das Sommergetreide viel weniger Zeit zum Reifen hat, sind seine Qualität und der Ertrag geringer. Levsens Ernte geht nun an die gemeinschaftliche Biogasanlage der Insel, die Strom für Pellworm produziert. Ein Kompromiss, mit dem er wie viele Landwirt:innen leben muss. Doch es gibt ein Problem: Den ganzjährig auf Pellworm lebenden Graugänsen schmeckt auch das Sommergetreide.
An einem grauen Tag Mitte Juli legt Jan Gonne Thams, Rufname Gonne, den Kopf in den Nacken und schaut in den Himmel. 150, vielleicht auch 200 Graugänse breiten laut schnatternd die Flügel aus und fliegen in einem großen Bogen über den jungen Pellwormer Landwirt hinweg. Er geht kopfschüttelnd über ein drei Hektar großes Feld, auf dem er bald Sommergerste dreschen wollte und in dem die Gänse bis eben noch saßen: „Das ist ‘ne Vollkatastrophe.“ Gonne Thams ist 25 Jahre alt und hat in diesem Jahr sein Agrarwissenschaftsstudium abgeschlossen. Seine Haare sind stoppelfeldkurz, aus seiner knielangen Funktionshose ragt ein Zollstock heraus.
Die Sorte Sommergerste, die Gonne Thams hier angebaut hat, wächst zum ersten Mal auf der Insel und ist ein Versuch. Eine Art Freiluftlabor mitten auf Pellworm. Thams ist Landwirt in langer Familientradition, seit Jahrhunderten baut die Familie Getreide an. „Ich versuche, Lösungen zu finden und das Beste daraus zu machen“, sagt Thams. Er will Sommergetreidesorten ausprobieren, die die Gänse meiden, die aber trotzdem guten Ertrag bringen. Ist er erfolgreich, will er das Saatgut vermehren und auf Pellworm großflächig anbauen. Aus der Gerste soll Futter werden für die Rinder, deren Bio-Fleisch die Familie Thams in ihrem Hofladen verkauft. Aus weiteren neuen Roggen- und Weizensorten will Gonne Thams mit einer kleinen Holzmühle Mehl mahlen und verkaufen.
Doch an diesem Nachmittag geht Thams über ein fast komplett kahl gefressenes Feld. „Das ist alles abgebissen, einfach unglaublich.“ Er rupft mit der Hand ein paar kahle, gelbe Stiele Gerste aus dem trockenen Boden und schaut sie an: „Auch hier, alle Köpfe ab.“ Immer wieder schüttelt Thams den Kopf, dreimal sagt er „bitter“ und rechnet vor: fast neun Hektar Totalausfall. Im kommenden Jahr wird er hier einen neuen Versuch starten, in der Hoffnung, dass eine andere Getreidesorte den Gänsen weniger gut schmeckt.
Landwirt Gonne Thams probiert neue Getreidesorten auf Pellworm aus – in der Hoffnung, dass sie den Gänsen nicht schmecken.
Im Jahr dürfen Jäger:innen auf Pellworm 2.000 Graugänse von September bis Ende Oktober schießen. Im Frühjahr dürfen sie Eier aus den Nestern sammeln. Doch 2021, erzählen Gonne Thams und Peter Levsen, sehen sie trotzdem so viele Graugänse auf Pellworm wie nie zuvor. Um wenigstens ihr Sommergetreide zu retten oder die Wiesen für das Vieh zu sichern, versuchen die Landwirte, die Gänse zu vergrämen. Dafür fahren sie mehrmals täglich mit Autos oder Treckern an ihren Feldern vorbei, stellen Vogelscheuchen auf und Drachen, die aussehen wie Greifvögel. Sie spannen Leinen und glitzernde Bänder über ihre Wiesen, bauen Knallmaschinen auf oder werfen Feuerwerkskörper. Doch die Gänse gewöhnen sich an vieles, fliegen zum nächsten Feld oder zur nächsten Heuwiese und fressen dort weiter. Und je mehr sie aufgescheucht werden, desto mehr Energie verbrauchen sie. Und desto mehr müssen sie fressen.
Einige Landwirt:innen auf Pellworm fordern den Abschuss der Nonnengänse. Doch diese stehen EU-weit unter Naturschutz, auch wenn sich ihre Population erholt hat und sie nicht mehr bedroht sind. „Diesen Abschuss wird es wegen des Artenschutzes nicht geben und es würde jetzt auch nicht mehr viel nützen bei der Größenordnung der Gänse“, sagt Levsen. „Wir kommen gegen die Gänse nicht an“, sagt auch Thams. Bisher werden Ackerbauern mit 360 Euro pro Hektar entschädigt, wenn sie Gänse auf ihren bestellten Feldern dulden und damit Rastplätze für wandernde Vogelarten schaffen. Doch das sei lange nicht genug, sagen die meisten.
Seit zwei Jahrzehnten ringen Bauernverbände, Naturschützer und Landesregierung um eine politische Lösung und um Entschädigungen. Im Juni dieses Jahres war Ministerpräsident Daniel Günther, CDU, auf Amrum, um sich das Gänseproblem anzuschauen. Doch im Juni waren die Nonnengänse längst weg, außerdem hat Amrum nur noch noch einen aktiven Landwirtschaftsbetrieb. Auf der Nachbarinsel Pellworm hat das bei vielen Landwirten den Eindruck verstärkt: Wir werden weder gesehen noch ernst genommen.
Für die Suche nach einer Lösung des Problems gibt es ein Wort: Gänsemanagement. Silke Backsen empfindet es allerdings als schwierig und paradox. „Es kann kein Gänsemanagement geben. Wo kommen wir denn dahin, wenn wir anfangen, Gänse zu managen? Verstehen die Menschen nicht, dass wir mit der Natur leben müssen?“
Backsen sitzt auf einer Bank auf dem Deich und guckt Richtung Hafen, Möwen kreischen laut. Sie ist Biologin und hat Anfang der 1990er-Jahre ihre Diplomarbeit über brütende Kiebitze auf Pellworm geschrieben. Bekannt wurde ihre Familie 2020 mit der Klimaklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Backsen hat auf Pellworm zweieinhalb Jahrzehnte auf einem landwirtschaftlichen Betrieb gelebt: „Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass man Millionen Gänse eliminieren kann.“
Für Silke Backsen sind die Gänse auch ein „landwirtschaftlich gemachtes Problem“, weil die energiereichsten Sorten, die den meisten Ertrag versprechen, eben auch die Gänse anlocken. „Daher muss man aufhören zu jammern und sich fragen: Was kann ich denn an meinem Betrieb ändern, an meiner Struktur?“ Backsen wünscht sich regionale und ökologische Ideen von den Landwirt:innen selbst.
Doch viele der Landwirt:innen setzen stattdessen auf Mais, der lukrativ ist und den Gänse nicht mögen. Für das Milchvieh eignet er sich als Futter, die Ackerbäuer:innen bringen ihren Mais zur inseleigenen Biogasanlage, um mit den Einnahmen die Gänseausfälle zu kompensieren. 2021 bauen die Landwirte auf Pellworm so viel Mais an wie noch nie zuvor: auf 300 Hektar Fläche. Auch ehemalige Wiesen sind heute Maisfelder. Für Silke Backsen ist das ein großer Rückschritt, ökologisch gesehen: Mais verträgt kein Unkraut, daher müssen konventionelle Bauern viel mit Herbiziden arbeiten und mit Stickstoff düngen. Zudem wird Mais durchgängig angebaut und so gibt es keine Fruchtfolge mehr. Der Boden hat keine Abwechslung, der Humusaufbau verringert sich und weniger CO2 wird gebunden. Und: Weil Mais auch auf feuchten Böden wächst, werden immer wieder auch Weiden umgebrochen. Ein Vorgang, der schlecht fürs Klima ist, weil dabei Kohlenstoffdioxid und Nitrat freigesetzt wird. Silke Backsen nennt den Mais daher auch „die Syphilis des Bodens“.
Am südwestlichsten Ende von Pellworm steigt Peter Levsen den fast acht Meter hohen Deich empor, um eine bessere Aussicht zu haben. „Da landen gerade wieder welche im Schwimmbad“, sagt er und zeigt auf den Süßwasserteich hinter dem Deich, in dem eine große Gruppe Graugänse schwimmt.
Manchmal denkt er darüber nach, was er machen würde, wenn es genug Entschädigungen gäbe: Levsen würde auf seinen Ackerflächen statt Getreide Gras ansäen. Er würde das Gras schön kurz halten, wie die Gänse das mögen. Er würde seinen Mähdrescher verkaufen, sich einen Oldtimer anschaffen und Touristen Gänsetouren anbieten. Auch wenn das auf Pellworm fast niemand hören wolle: Landwirtschaft, wie er und seine Vorfahren sie auf der Insel jahrhundertelang betrieben haben, werde es in Zukunft nicht mehr geben.
Sind Sie manchmal wütend auf die Gänse, Herr Levsen? Vier Mal sagt er „nein“. Und dann: „Ich muss damit leben. Die Gänse wollen auch leben. Ich will damit nur nicht alleingelassen werden.“
Alle Fotos: Katharina Fiedler